Das Schöne an Judith Hermanns Büchern: Sie sind schon eine ganze Weile da, und die Figuren sind immer mitgewachsen.

Foto: Andreas Labes / S. Fischer

In den vielen Interviews, die Judith Hermann über die Jahre, in denen sie nun schon Schriftstellerin ist, gegeben hat, hat sie immer wieder einen Satz gesagt, nämlich nicht der Autor entscheide über die Länge des Textes, sondern der Text selbst – und damit ihre Schriftstellerkollegin Katja Lange-Müller zitiert. Seit die heute 44-jährige Hermann 1998 mit ihren kurzen, stimmungsdichten Shortstorys in Sommerhaus, später zum "Fräuleinwunder der deutschen Literatur" gemacht und für den "Sound einer neuen Generation" fast zu Tode gelobt wurde, erschienen in schöner Regelmäßigkeit von fünf, sechs Jahren neue Bücher der Berliner Erfolgsautorin: 2003 folgten die bereits deutlich längeren Kurzgeschichten in Nichts als Gespenster, in denen sie ihre Figuren von Berlin aus in die Welt verschickte, 2009 dann Alice, ein Buch, in dem die fünf Kurzgeschichten durch eine Protagonistin bereits verbunden waren. Und ganz im Gegensatz zu den schwerwiegenden Themen Sterben und Abschiede hätte dieses letzte Buch auch leichtfertig als Roman durchgehen können. Aber leichtfertig passiert bei Judith Hermann schon lange nichts mehr.

Vielleicht eine Art Folgeerscheinung aus ihrer Fräuleinwunder-Zeit, über die sie später einmal sagt: "So kann ich mich nicht noch einmal verschleißen." Hermann weiß zumindest, was sie nicht will. Schreibstress zum Beispiel. Nach dem letzten Buch 2009 sagt sie: "Fünf Jahre habe ich Zeit. Ich weiß, dass ich nicht schneller schreiben werde." Und sie behält recht. Jetzt erscheint ihr viertes Buch, ein erster Roman.

Ein Roman hat etwas Abgeschlossenes, eine Erzählung, das wissen wir von Hermann, kann am Ende alles in Schwebe lassen. Aller Liebe Anfang lässt nur anfangs vieles in Schwebe, dann nicht mehr viel. Mit Stella, ganz nüchtern "von Beruf Krankenpflegerin, siebenunddreißig Jahre alt, verheiratet und Mutter eines Kindes" betreten wir wieder eine gänzlich analoge Hermann’sche, dieses Mal sogar Vorstadt-Welt, in der die Protagonistin gar nicht sagen könnte, wie sie etwa die drei, vier freien Stunden am Vormittag verbringt: "Sie räumt die Küche auf, wäscht sich die Haare. Sie schreibt eine Karte an Clara, sie liest etwas in der Zeitung, ... wäscht Avas Sachen, arbeitet Jasons Post und Rechnungen durch, sieht nach den Pflanzen in den Tontöpfen ..."

Aber diese langsame Beschaulichkeit trügt: In Aller Liebe Anfang geht es zunächst um eine Liebesbeziehung zweier Menschen, die zur Kleinfamilie wächst, und dann ganz allmählich um die Bedrohung dieser Familie – auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Konkret: durch einen Fremden, der zum Stalker wird. Und viel diffuser noch und spekulativer: durch die eigenen Sehnsüchte. Und davon versteht die Autorin schon lange sehr viel.

Als Judith Hermann anlässlich ihres letzten Buchs in einem Interview mit der Zeit davon gesprochen hat, zu Hause das Internet wieder abzuschaffen, (wer weiß, vielleicht hat sie es gemacht?), klingt das heute wie ein versteckter Vorbote auf das neue Buch, weil sie damals von einer notwendigen "Distanz zwischen dem Zuhause und dem Rest der Welt" gesprochen hat – so als wäre es bedroht. Kein Wunder: Seit vielen Jahren nennt Hermann die kanadische Schriftstellerin Alice Munroe ihr Vorbild. Und Munroe ist unbestritten die Meisterin des Einbrechens von allem möglichen Bedrohlichen in einen vertrauten Alltag.

Wer früher eine Art diffuse Stofflosigkeit bei Judith Hermann bemängelt hätte: Das aktuelle Buch hat einen konkreten Anfang, steuert präzise auf einen, sogar ganz gewaltigen, Höhepunkt zu und lässt am Ende eine Beziehung nicht scheitern – und damit nicht viel offen. Aber Hermann macht immer noch kaum einen Unterschied zwischen Erfüllung und Versagung ihrer fein gezeichneten Figuren. Wer sich in solchen Zuschreibungen zu Hause fühlt, wird Aller Liebe Anfang gerne lesen.

Hermann, eine Handwerkerin

Über das Wenige (im aktuellen Buch auch Ungeheuerliche), das ihre Figuren erleben, weiß die Autorin in allen Einzelheiten Bescheid: den kleinen Alltag mit einem Kind, die stillen Stunden bei der Pflege von Alten, die unsicheren Routinen von Eheleuten, die sich länger nicht sehen, die Angst vor Verlusten, die vor Veränderungen – und die gleichzeitige Sehnsucht danach.

Ihre fein gewobene Prosa darf nicht täuschen: Hermann ist eine Handwerkerin. Sprachlich ungeheuer präzise setzt sie kein Wort zu viel und vor allem keines an den falschen Platz. Das wirklich Schöne an Judith Hermanns Büchern ist: Sie sind schon eine ganze Weile da. Begonnen hat alles mit vielen Zigaretten und der Weigerung, erwachsen zu werden. Mit Freundinnen, die man geliebt und von denen man sich wie von Beziehungen getrennt hat. Niemand wusste so genau, wie das alles geht, dann sind Kinder auf die Welt gekommen und die ersten Menschen wieder gegangen. Vom Sommerhaus, später zum „Sommerhaus, jetzt“: Die Figuren Judith Hermanns sind immer mitgewachsen. In Aller Liebe Anfang lassen sie keinen Zweifel daran, dass sie erwachsen sind – sie kämpfen mit den alltäglichen Notwendigkeiten, den vermeint lichen Unbeweglichkeiten, der wachsenden Angst.

Auch wenn Judith Hermann jetzt in einem FAZ-Interview das Romanschreiben mit der klaustrophobischen Arbeit in einem Bergwerk verglichen hat und auf Seite 43 verstanden hat, „dass ich nun im Berg bin und erst rauskomme, wenn ich es zu Ende bringe“, liest sich ihr erster Roman wie eine sehr lange Kurzgeschichte. Um in der Hermann’schen Diktion zu bleiben, hat man an keiner Stelle des 219-Seiten-Buchs das Gefühl, als hätte die Autorin den Ausgang und das Ende jemals aus den Augen verloren. "So ist es –", so lautet schon Hermanns erster Satz. Früher hätte dahinter ein "vielleicht" gestanden. Heute nicht mehr. So ist es. Heute. Jetzt. Wer weiß, was in fünf Jahren kommt. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 16./17.8.2014)