STANDARD: Der Vorschlag von Außenminister Sebastian Kurz zu separaten Deutsch-Förderklassen für Kinder mit Migrationshintergrund hat heftige Reaktionen ausgelöst. Herr Stavaric, Sie sind mit sieben Jahren mit Ihren Eltern aus der Tschechoslowakei geflüchtet, was sagen Sie dazu?

Stavaric: Fremdsprachige Kinder auszuschließen finde ich wenig förderlich, weil sie ja auch viel von anderen Kindern im Unterricht lernen. Bei mir war das so. Ich war allerdings das einzige Kind mit Migrationshintergrund in der Schule und hatte Lehrer, die mich sprachlich voranbringen wollten. Der Faktor Mensch war entscheidend.

STANDARD: War es ein Schock, zum ersten Mal in der Klasse zu sein, ohne ein Wort Deutsch zu können?

Stavaric: Es kam unerwartet, ich wurde hineingeworfen. Es ist schwer, die ersten Schritte zu machen ohne das identitätsstiftende Moment der neuen Sprache.

Kurz: Sprache ist entscheidend und die Basis für das Zusammenleben. In Wien gibt es Klassen, wo kein einziges Kind Deutsch kann. Es geht ja nicht um eigene Klassen an sich, sondern um eine intensive Vorbereitung, damit die Kinder dem Unterricht folgen können.

Fünf Fragen von Max Frisch an Sebastian Kurz und Michael Stavaric
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STANDARD: Experten sagen, dass es vor allem sinnvoll ist, die Muttersprache zu fördern. Stimmen Sie dem zu, Herr Kurz?

Kurz: Das widerspricht sich ja nicht. Jeder, der mehrere Sprachen kann, hat einen Vorteil. Die Muttersprache alleine zu können reicht aber für das österreichische Bildungssystem nicht.

Stavaric: Ohne ein fortgeschrittenes Wissen um die eigene Muttersprache ist es schwer, andere Sprachen zu lernen. Ich bin viel in Schulen, mir begegnen Kinder beispielsweise mit türkischem Migrationshintergrund, die aber kein Türkisch können. Sie reden vermeintlich Türkisch, und genauso schlecht sprechen sie dann Deutsch.

Kurz: Ein Einwand: Es gibt aber kein anderes Land im OECD-Schnitt, das so viel in den muttersprachlichen Unterricht investiert wie Österreich. Trotzdem verlassen Kinder mit Migrationshintergrund die Schule viel zu oft ohne Abschluss. Vor Ghettoklassen wird gewarnt, aber wir haben kein Problem, dass Kinder, die ganz schlecht Deutsch können, überproportional oft in Sonderschulen abgeschoben werden. Wir haben die intensive Förderung der deutschen Sprache zu wenig betrieben. Alles andere ist der falsche Weg, sonst haben Kinder nichtdeutscher Muttersprache nicht die gleichen Chancen.

Michael Stavaric ist zweisprachig aufgewachsen, Deutsch hat er auch von seinen Mitschülern gelernt. Außenminister Sebastian Kurz will dennoch Deutsch intensiver fördern. Für ihn ist die Sprache entscheidend für das Leben in Österreich.


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STANDARD: Ist Ihnen Ihre Zweisprachigkeit wichtig, Herr Stavaric?

Stavaric: Ich würde keine Bücher schreiben ohne diese frühe Auseinandersetzung mit Sprache. Das war für mich ein großer Gewinn. Mich hat es interessiert, die neue Sprache zu verstehen und sie mit Tschechisch zu vergleichen.

STANDARD: Hatten Sie Angst, Ihr Tschechisch zu vernachlässigen?

Stavaric: Nein, wir haben zuhause immer Tschechisch gesprochen. Beim Schreiben habe ich mich irgendwann gefragt, was ist jetzt eigentlich meine Muttersprache? Wo sehe ich meine Heimat? Bin ich Österreicher, Tscheche oder Europäer?

STANDARD: Von Ihnen, Herr Stavaric, stammt der Vorschlag, dass jeder Österreicher die Staatsbürgerschaft eines Nachbarlands annehmen sollte. Welches würden Sie sich aussuchen, Herr Kurz?

Kurz: Ich gehöre einer anderen Generation an, ich bin sehr europäisch orientiert. Ich würde mir schwertun, ein Nachbarland auszusuchen. Außerdem würde uns das außenpolitisch nicht gut bekommen.

Stavaric: Wie wäre es mit einem europäischen Pass, der alle inkludiert?

Kurz: Wir haben einen europäischen Pass. Gerade unter Jungen ist das Gefühl, Europäer zu sein, ausgeprägt. Je weiter einen seine Reisen führen, desto mehr fühlt man sich als Europäer. Spätestens, wenn ich erklären muss, wo Österreich liegt, sage ich, dass ich aus Europa bin.

"Das Ende der Welt hat sich verlagert. Es gab viele Wünsche, die sich nicht erfüllt haben", sagt Michael Stavaric.


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STANDARD: Und wie erklären Sie Österreich?

Kurz: Es ist immer leichter, wenn man ein Handy dabei hat und Österreich auf der Landkarte zeigen kann. Als kleines Land sind wir in weiten Teilen der Welt gar nicht bekannt.

STANDARD: Das Bild von Österreich wird auch von der Regierung bestimmt. Sie haben sich während der schwarz-blauen Koalition politisch zu engagieren begonnen und sind der Jungen ÖVP beigetreten. Was hat Sie an der ÖVP fasziniert?

Kurz: Die schwarz-blaue Regierung war nicht die Motivation für mich, in die Politik einzusteigen, sondern der Wunsch, mitzureden und mitgestalten zu können. Die JVP war mir von der Weltanschauung mit Abstand am nächsten.

STANDARD: Hat Sie diese Zeit politisiert?

Kurz: Was die Tagespolitik betrifft, schon, was Grundwerte betrifft, war meine Auseinandersetzung mit Politik tiefergehend als die Regierungsform. Bei Schwarz-Blau war mir sicherlich der Zugang Leistung und Eigenverantwortung wichtig und der Wunsch nach einem ausgeglichenen Budget.

STANDARD: Apropos Leistung: Die Frage "Was war meine Leistung?" war ja auch sinngebend für die schwarz-blaue Regierung.

Kurz: Der Satz weist auf die Korruptionsvorwürfe hin, die es aus der Zeit gibt. Die gab es auch in anderen Regierungen in unserem Land. Es ist notwendig, auf das zu schauen, was schlecht gelaufen ist, aber auch auf das, was gut war.

Stavaric: Jeder halbwegs gebildete Mensch hat ein politisches Gewissen. Der große politisierende Faktor waren für mich Jörg Haider und der Aufstieg der FPÖ. Aber ich sehe, wie schwer es ist, Politiker zu sein. Es gibt kein Universalkonzept, das alles lösen kann.

STANDARD: Hätten Sie sich als 16-Jähriger auch für die ÖVP interessiert, Herr Stavaric?

Stavaric: Eher als für andere Parteien. Aber um mich politisch zu engagieren, hätte ich lieber gleich eine Partei gegründet. Dass eine vorhandene Partei schon alles beinhaltet, was man sich wünscht, das gibt es einfach nicht. Sich einer Partei anzuschließen bedeutet, Abstriche zu machen.

Kurz: Wenn man selbst eine Partei gründet und nicht alleine bleiben will, gibt es auch die Notwendigkeit zum Konsens.

"Ich hatte gute Noten, aber die Betragensnoten wären verbesserbar gewesen", sagt Sebastian Kurz.
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STANDARD: Sie sind relativ schnell zum JVP-Obmann in Wien aufgestiegen. Beim letzten Wien-Wahlkampf haben Sie mit dem "Geilomobil" geworben. Bereuen Sie das?

Kurz: Nein, es ist im Nachhinein ganz lustig. Ich habe mehrere Kampagnen gemacht. Manche waren erfolgreich, manche weniger. Den Wien-Wahlkampf würde ich unter Letzterem einordnen.

STANDARD: Ist es eine Jugendsünde?

Kurz: Nein, es gibt schlimmere Jugendsünden. Als Jugendorganisation muss man sich Gehör verschaffen: besonders laut, plakativ oder plump.

STANDARD: Haben Sie eigentlich jemals rebelliert?

Kurz: Dauernd. Meine ehemaligen Lehrer sind mittlerweile so freundlich zu sagen, dass ich ein interessanter Schüler war. Als ich noch Schüler war, hat sich das anders angehört. Ich hatte gute Noten, aber die Betragensnoten wären verbesserbar gewesen.

Stavaric: Ich war sowieso der Quotenrebell, außerdem war ich nicht getauft. In Niederösterreich war das in den 1980ern schon ein Faktor. Ich durfte nicht am Religionsunterricht teilnehmen und musste stets die Klasse verlassen. Das habe ich als Manko empfunden. Und ich war ein schlechter Schüler, viele Lehrer haben mir gesagt, dass ich es nicht schaffen werde. Ich habe sehr oft geschummelt, gerade in Fächern, die ich nicht mochte.

STANDARD: Haben Sie auch geschummelt, Herr Kurz?

Kurz: Wie jeder, oder?

STANDARD: Sie sind auch Europaminister. Was ist Ihre Vision von Europa in 50 Jahren?

Kurz: Auf jeden Fall eine Fortsetzung des Friedensprojekts. Gerade im Gedenkjahr 2014 wird einem stark bewusst, dass das Friedensprojekt nicht selbstverständlich ist. Wenn wir vom Europa der Zukunft sprechen, braucht es eine Erweiterung in Richtung ehemaliges Jugoslawien. Die EU muss Bewährtes hinterfragen und darf nicht hinter andere Kontinente zurückfallen.

Stavaric: Meine Vision wäre so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa. Aus der Gegenwart ist das eine utopische Vorstellung. Die große Herausforderung ist die ständige Auseinandersetzung mit nationalstaatlichen Befindlichkeiten. Das Friedensprojekt ist das Um und Auf; Europäer haben immer mit Krieg reagiert, wenn sie etwas nicht lösen konnten.

STANDARD: Prägend für Europa war auch der Fall des Eisernen Vorhangs. Herr Stavaric, Sie sind an der tschechischen Grenze aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Stavaric: Die Euphorie auf beiden Seiten. Das Ende der Welt hat sich damals verlagert. Es gab viele Wünsche und Möglichkeiten, die sich aber so nicht erfüllen konnten.

Kurz: Bei mir geht sich das altersmäßig nicht aus. Ich kenne nur noch die offenen Grenzen, alles andere wirkt für mich unvorstellbar. Aber es war ein Erfolg der Freiheit, ein wichtiger Schritt für Österreich und die östlichen Nachbarländer.

STANDARD: Ist das österreichische Selbstverständnis überzogen?

Stavaric: Aus dem geschichtlichen Verständnis nein, aber aufgrund der personellen Ressourcen in der österreichischen Politik schon. Politiker sollen mutiger sein und Vorschläge machen, die nicht durch hundert Kompromisse nach unten nivelliert werden. Wäre ich Minister, würde ich gerne über das Ziel hinausschießen.

STANDARD: Würden Sie das auch gerne machen?

Kurz: Ja. Vielleicht gibt es deswegen so viel Kritik an den Deutschklassen. Da bin ich aber nicht über das Ziel hinausgeschossen, da bin ich überzeugt, dass es richtig ist. (Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 23.8.2014)