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Der Direktor des Sarajevo Film Festival: Mirsad Purivatra.

Foto: reuters/DANILO KRSTANOVIC

Sarajevo - Lushe hat geredet. Und das wird ihr zum Verhängnis. Als sie einkaufen gehen will, sperrt der Ladenbesitzer vor ihrem Gesicht die Türe zu. Denn Lushe hat etwas erzählt, das zwar alle wissen, aber worüber man nicht reden darf, so als würde es nicht passiert sein, solange man darüber schweigt. Oder so, als würden die Frauen, wenn sie darüber reden, Schande über die Familien, oder besser gesagt über ihre Männer, bringen. Der Film "Drei Fenster und eine Hinrichtung" von Isa Qosja über Vergewaltigungen von Frauen im Kosovo-Krieg durch serbische Einsatzkräfte ist ein Film über den Umgang von Opfern sexueller Gewalt in einer patriarchalen Gesellschaft, die von Ehrbegriffen geprägt ist, die wiederum die Frauen zum Schweigen verdonnern. Die Weltpremiere beim Sarajevo Filmfestival wurde sehr gut aufgenommen.

Kind des Krieges

Gewonnen hat übrigens der türkische Film "Das Lied meiner Mutter" von Erol Mintaş, eine Geschichte über Stadtflucht und die Suche nach der verlorenen dörflichen Heimat. Das Sarajevo Filmfestival, das längst nicht mehr nur für die Staaten Ex-Jugoslawiens zentral ist, kommt in sein zwanzigsten Jahr, es ist ein Kind des Kriegs (1992-1995). Damals haben man zwar gesehen, dass man physisch überleben könne, "aber wir überleben wir psychisch und moralisch?, haben wir uns gefragt", erzählt Festivaldirektor Mirsad Purivatra. In einem Keller des Theaters Obala, wo die Theaterleute damals schliefen, um vor den Granaten sicher zu sein, fanden sie einen Filmprojektor. Allerdings gab es damals weder den notwendigen Treibstoff, noch Elektrizität in Sarajevo, um diesen zu nutzen. Zwei UN-Leute, die am Flughafen stationiert waren, halfen. "Sie brachten sogar 50 Liter Treibstoff, wobei ein Liter damals 100 Mark kostete", erzählt Purivatra. In der Filmbibliothek fand er Hitchcock- und Buñuel-Filme. Und der Keller mit den Filmvorführungen wurde so nicht nur zum Kino, sondern zum Ort des Gesprächs. Trotz Granaten und Sniper, kamen viele Leute. "Sie wollten hier auch erfahren, wer noch in der Stadt war, wer noch am Leben und wer getötet worden war", erinnert sich Purivatra.

Man schaute Filme, man diskutierte. Und man überlebte. Moralisch. Dann erfuhren Leute vom Filmfestival in Locarno von diesem Keller in Sarajevo und schickten Filmrollen. Und auch aus den USA wurden 20 Filme von Universal Pictures in die belagerte Stadt gebracht. Darunter Basic Instinct, wie sich Purivatra erinnert. Und irgendwann dachten sich die Theaterleute im Keller, dass sie selbst ein Festival kreieren wollten. "Wir wollten es im Sommer machen, es ging uns um frische Luft wir waren ja lang genug im Keller", so Purivatra. Im Herbst 1995 fand dann das erste Festival statt. Die Filme waren noch über den berühmten Tunnel in die Stadt geschmuggelt worden, manche wurden in bewaffneten Autos gebracht. "Am letzten Tag des Festivals wurde dann der Friedensvertrag von Dayton unterzeichnet", erzählt Purivatra. "Bis dahin schossen die Sniper."

Auch heute sind die Umstände, unter denen das Festival organisiert wird, schwierig. Nur 30 Prozent des Budgets von 1,5 Mio Euro kommen aus öffentlichen Förderungen, etwa aus dem Fonds Kreatives Europa, bei dem sich Bosnien-Herzegowina auch bewerben kann, obwohl es keinen EU-Kandidatenstatus hat. 70 Prozent wird von Sponsoren bezahlt, dabei ist etwa auch die Raiffeisen Bank oder der slowenische Bierbrauer Laško. Das in zwei Landesteile geteilte Bosnien-Herzegowina hat nicht einmal ein gemeinsames Kulturministerium. Das Budget für den Landesteil Föderation für das Jahr 2013 betrug für die laufenden Transfers für kulturelle Einrichtungen 1,5 Millionen Bosnische Mark, für das architektonische Erbe waren 920.000 Bosnische Mark (KM) veranschlagt, die bosniakische Gesellschaft Preporod bekam 198.000 KM und die jüdische Gesellschaft Benevolencija 54.000 KM. Insgesamt waren das also 2,7 Mio KM, knapp 1,4 Mio. Euro. Und das ist es.

Tatsächlich ist es bereits ein Erfolg, dass trotz der massiven Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Bosnien-Herzegowina, in einem Staat der in vielen Bereich völlig lahm gelegt ist, überhaupt so ein Festival stattfinden kann. Praktisch wird das Ganze von "zehn enthusiastischen Leuten" organisiert. Die Stadt hat mittlerweile gemerkt, dass das Festival Touristen anzieht. Aber es fehlt an Visionen, obwohl Sarajevo während des SFF bei der Hotel-Buchungsplattform booking.com unter den Top Ten in Europa liegt und zu über 80 Prozent ausgebucht ist.

Kleine Schritte

Purivatra ist daran gewöhnt, dass es nur in kleinen Schritten weiter geht. "Wenn wir nur den Geist von einem jungen Menschen öffnen, dann ist das schon ein Erfolg", sagt er. Das SFF ist jedes Jahr bei weitem das wichtigste kulturelle Ereignis in Bosnien-Herzegowina. Und auch in der Region ist es das bedeutendste Filmfestival. Jedes Jahr im August erwacht die bosnische Hauptstadt dann aus ihrer langsamen Dörflichkeit und man sieht plötzlich einen Hauch Glamour und Luxus, den es sonst überhaupt nicht gibt, weil Bosnien-Herzegowina so ein armes Land ist. Vor dem Nationaltheater liegt dann der rote Teppich und viele EU-Europäer frequentieren die Cafés.

In jugoslawischer Zeit war Sarajevo ein Ort der Inspiration für Filmemacher, wie für Rocksänger aus ganz Europa. "Auch wenn in anderer Hinsicht dieser Geist der Multikulturalität und des Aufhebens von Grenzen verloren gegangen ist, so ist er doch im Sarajevo Film Festival wieder da", sagt Dejan Kukrić vom Kulturprogramm des staatlichen Fernsehens BHRT.

Zu Beginn war das Sarajevo Filmfestival noch auf die Region beschränkt, dann dehnte man es zunächst auf Rumänien und Bulgarien, dann auf Österreich, Ungarn und die Türkei aus. "Schließlich war Sarajevo ja auch Teil von zwei große Imperien, dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn", erklärt Purivatra. Heute gibt es auch Filme aus Georgien, der Ukraine, Armenien. Den Organisatoren geht auch darum, Filmemachern von dort eine Bühne zu bieten. Vor allem im Nachbarland Kroatien ist das SFF sehr beliebt und zieht auch zahlreiche kroatische Medien an. Kroatien hat auch die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić mit ihrer Produktion Otok ljubavi (Die Insel der Liebe) unterstützt, nachdem sie in ihrer Heimat abgeblitzt ist. Ein wenig anders ist es in Serbien. Es wurden zwar von Beginn an serbische Filme gezeigt, doch die Berichterstattung in Serbien über das Festival in der bosnischen Hauptstadt hält sich auch zwanzig Jahre nach dem Krieg in Grenzen.

Filme zum Thema Homosexualität

Purivatra und seine Leute versuchen aber auch die Grenzen in Bosnien-Herzegowina selbst zu bewegen. Dieses Jahr drehen sich drei Filme um das Thema Homosexualität. Im superkonservativen Sarajevo, wo man als Schwuler oder als Lesbe nicht einmal händchenhaltend durch die Stadt gehen kann, ohne von religiösen Fanatikern beschimpft zu werden, versucht das Festival diesmal in einem anderen Sinn "frische Luft" zu fördern. "Es gibt hier keine Tabus", sagt Purivatra. Erfreulich ist, dass auch Studenten aus Banja Luka anreisen, der zentralen Stadt der zweiten Entität in Bosnien-Herzegowina, der Republika Srpska, deren politische Elite die Abspaltung von Bosnien-Herzegowina anstrebt und den gemeinsamen Staat ablehnt. Das Sarajevo Filmfestival bietet auch seit ein paar Jahren einen Talent Campus, wo Studenten unterrichtet werden. Das Projekt ist ein Schwesternprojekt der Berlinale, wie überhaupt das Sarajevo Filmfestival Unterstützung aus Berlin und Venedig bekommt. Und es werden auch Dokumentarfilme gezeigt wie etwa jenen von dem deutschen Journalisten Erich Rathfelder über die ethnischen Säuberungen in Prijedor, die durch den Fund des Massengrabs in der Nähe der Stadt vergangenes Jahr besonders brisant sind. (Adelheid Wölfl, derStandard.at, 25.8.2014)