Bild nicht mehr verfügbar.

Die schwedische Kultband ABBA: Ein Online-Spiel prüft die Erinnerung an Musik.

Foto: dpa

Bild nicht mehr verfügbar.

Alan Turings Biologiebeobachtungen werden durch ein Citizen-Science-Projekt fortgeführt: Woher kennt die Sonnenblume die Fibonacci-Folge?

Foto: Henning Kaiser/dpa

Können Sie sich an die Songs von Depeche Mode, ABBA, Massive Attack oder Pink Floyd erinnern? Wirklich? Dann probieren Sie doch einmal das Online-Spiel Hooked On Music aus. Ein Song wird gespielt. Dann wird die Frage gestellt: Kennen Sie diesen Song? Ein Klick auf "Ja" bedeutet: der Song wird unterbrochen. Kurze Zeit später wird er fortgesetzt. Die Frage ist aber, ob er an der gleichen Stelle fortgesetzt wird. Ja oder nein? Für die richtige Antwort gibt es Punkte.

Wissenschafter aus Manchester und Amsterdam wollen mit diesem Spiel die musikalische Erinnerungsfähigkeit prüfen. Sie wollen herausfinden, was einen Song "catchy" macht und woran man sich nach vielen Jahren immer noch erinnern kann. Langfristig will man die Ergebnisse für weitere Forschungen über Alzheimer und Demenz nützen.

Hooked On Music ist nur eines von derzeit recht vielen Citizen-Science-Projekten. Wissenschaft mit Bürgerbeteiligung ist populär. Es geht darum, interessierte User aufzurufen, bei wissenschaftlichen Projekten mitzumachen. Über Online-Plattformen ist das technisch rasch umsetzbar. Deswegen kursieren auch die alternativen Namen für diesen Trend, Open Science und Science 2.0, in der Öffentlichkeit. Was auch zu Begriffsverwirrungen führt.

Darwins Briefe an Amateurforscher

Hat es all das nicht immer schon gegeben? Charles Darwin, selbst nicht an einer Universität tätig, hatte weder Google noch Facebook oder Twitter, aber auch er setzte auf Bürgerbeteiligung. Er schrieb Briefe an tausende passionierte Amateurforscher und bat sie, ihre Naturbeobachtungen schriftlich zu dokumentieren, aber auch die beobachteten Tiere und Pflanzen zu zeichnen. Sein bahnbrechendes Werk "Über die Entstehung der Arten" wäre ohne die Unterstützung von Laien vielleicht nie entstanden. Darwin war nicht der erste und auch nicht der einzige Wissenschafter, der so arbeitete. Dazu kommt, dass es längst Heerscharen an Hobby-Astronomen oder Amateur-Ornithologen gibt, ohne die manch ein Forschungsprojekt nie umgesetzt werden könnte.

Die gegenwärtige Citizen-Science-Bewegung findet aber auf Online-Plattformen statt und ist daher auch breiter angelegt - die Fragen, die dabei auftauchen, beschränken sich folgerichtig nicht auf die Motivation von ohnehin engagierten Usern. Mitmachen kann eigentlich jeder. Daher muss man sich schon fragen, wie man die Öffentlichkeit anspricht. Katja Mayer, Wissenschaftsforscherin an der Universität Wien berichtete während der Alpbacher Technologiegespräche von mehreren Anreizen, die zum Mitmachen bewegen: "Community-Bulding", also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gemeinsamen Interessen, aber auch der damit verbundene Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen im Verlauf eines Forschungsprojekts.

Mayer appellierte an Politiker, Wissenschafter und Wirtschaftstreibende, die Weichen zu stellen, dass wissenschaftliche und technische Informationen bis zu einem gewissen Grad "geshared", also öffentlich geteilt werden können. Citizen-Science sei ein Innovationsmotor, wie das Beispiel Life-Sciences zeige. Hier werde bereits über Online-Plattformen gearbeitet, auch Nachwuchsforscher könnten so auf Ergebnisse zugreifen.

Was tun Wissenschafter eigentlich?

Citizen-Science gilt unter Experten auch als idealer Weg, um der wachsenden Skepsis gegenüber der Grundlagenforschung zu begegnen. Lucia Malfent von der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft sagt zum STANDARD, dass sich Bürger angesichts steigender Kosten von wissenschaftlichen Projekten oft fragen: "Was tun die Wissenschafter eigentlich? Und was bringt es mir?"

Sie koordiniert ein dreijähriges, von der Nationalstiftung finanziertes Projekt mit dem Titel "Open Innovation in Science". Ab dem Frühjahr 2015 sollen auf einer Online-Plattform Erfahrungen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen gesammelt werden - von Verwandten und Freunden der Betroffenen. "Die Themen werden gesammelt und daraufhin zu Schwerpunkten geclustert", sagt Malfent. Was wird mit dem Ergebnis gemacht? Soll es eine Anregung für Forschungsprojekte sein? "Nein, ich würde es als Verpflichtung betrachten. Aus den Resultaten wollen wir herauslesen, was die User wirklich interessiert." Das Projekt geht aber danach noch weiter: Im Frühjahr 2016 sollen Wissenschafter in den Techniken der Bürgerbeteiligung via Web geschult werden.

Derart ausgebildete Wissenschafter gibt es in den USA natürlich längst - und zwar an jeder größeren Universität. In Großbritannien macht der Wellcome Trust 4,5 Millionen Pfund (5,7 Millionen Euro) pro Jahr für die Finanzierung von Citizen-Science-Projekten flüssig. "Turing's Sunflowers" (Turings Sonnenblumen) ist eines davon: Der geniale Computerpionier und Codeknacker Alan Turing stellte in den 1950er-Jahren mathematische Überlegungen zur Biologie an - zum Beispiel war er von Mustern in der Sonnenblumenblüte fasziniert. Woher weiß die Blume, wie sie ihre Kerne anordnet? Wie entsteht diese Musterung? Turing glaubte, dass die Fibonacci-Folge 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, ... dabei eine Rolle spielt. Ein unendliche Folge von Zahlen, die sich aus der Summe der beiden vorangegangenen ergibt.

Turings Berechnungen

Die Neurowissenschafterin Erinma Ochu vom Wellcome Trust setzt seit 2011 mit "Turing's Sunflowers" die Studie fort. Bürger wurden gebeten, Sonnenblumen zu züchten, zu zählen und ihre Beobachtungen dabei mit der Community zu teilen. "Es geht bei Citizen-Science-Projekten mehr um den Prozess als um die Sammlung von vielen Daten", sagte sie zum STANDARD.

In Frankreich findet Citizen-Science bereits in den Schulen statt. François Taddei, Gründer des Zentrums für Forschung in Interdisziplinarität an der Descartes-Universität in Paris, war auch in Alpbach und berichtete: "Fünfzig Prozent aller Jobs, die es heute gibt, wird es in zwanzig Jahren nicht mehr geben." Deshalb sollten schon kleinere Kinder trainiert werden, spielerisch Lösungen für selbst gestellte Fragen zu finden - genauso wie es die Wissenschafter machen. Die Fragen der Kinder klingen beispielsweise so: "Können Bienen Sudoku spielen?" Der Hintergrund dazu: Die Insekten werden von Mustern angezogen. Der jüngste Citizen-Scientist dabei war erst acht Jahre alt.

Begegnung auf Augenhöhe

Wird sich der Trend durchsetzen? Die Europäische Kommission hat jedenfalls schon eine Agenda zum Thema, um diese Bürgerbeteiligung zu unterstützen. Die Skepsis unter Wissenschaftern ist dennoch groß. Sie verweisen auf die dabei entstehenden Datenmengen und fragen: "Wer soll das verwalten?" Oder: "Wie darf man den engagierten Laien begegnen?" Gert Wagner vom Deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut meinte kürzlich: "Unbedingt auf Augenhöhe." Man dürfe die Community keinesfalls ausnützen. Lucia Malfent kennt auch diese Skepsis und sagt: "Wir wollen die sich beteiligenden User natürlich nicht ausnützen. Wir wollen wissen, was sie interessiert. Es geht sicher nicht darum, möglichst billig an verwertbare Daten zu kommen."

Aber auch Befürworter von Citizen-Science wissen, dass noch einige Fragen offen sind. "Es wird zu einer Professionalisierung kommen, aber die Bewegung ist nicht aufzuhalten", sagt die Wissenschaftsforscherin und ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats ERC, Helga Nowotny. "Der Bedarf ist vorhanden und die Möglichkeiten ebenso." (Peter Illetschko, DER STANDARD, 27.8.2014)