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"Wir haben Öl, wir haben Gas, der Wirtschaft geht's gut", sagt Ramin Farzaliyev. "Und sobald die warme Jahreszeit überstanden ist, werde sogar ich wieder gut verdienen!" Der 28-Jährige ist Hutmacher. Schon in dritter Generation. Er sitzt in einem nur sieben Quadratmeter großen Kabäuschen in einem Hinterhof am Azerbaycan Prospekti, einer Hauptverkehrsachse durch Baku. Farzaliyev setzt eine aserbaidschanische Tradition fort, die in Zeiten des stetigen Wandels der Hauptstadt so etwas wie eine hoffnungsvolle Konstante ist. "Wenn ich mich hier hinten in meine Werkstatt zurückziehe und Pelzhüte nähe, dann schmecke ich das Meer, dann spüre ich den Wind, dann wird es mir trotz kaputter Lüftung kühl um den Kopf."

Hutmacher wie Ramin Farzaliyev, die den traditionellen Milli-Papaq herstellen, sind selten geworden in Baku.

Foto: Wojciech Czaja

Zwei bis drei Tage braucht er für einen klassischen Milli-Papaq. So heißen die flachen, zylindrischen Hüte, für die schwarzes oder graues Karakulschafsfell auf eine vierlagige Unterkonstruktion aus Vlies und unterschiedlichen Filzen gespannt wird. "Wissen Sie, Baku hat sich in den letzten Jahren enorm verändert, und das nicht erst seit dem Eurovision Song Contest vor zwei Jahren", sagt Ramin. "Aber eines wird sich niemals ändern: Solange es Aserbaidschan gibt, wird es auch Papaqs geben."

Moden einer Großstadt

Draußen auf dem Azerbaycan Prospekti sieht die Welt freilich anders aus. Hier dominieren die gleichen Billigmodeketten wie in jeder anderen Großstadt auch. Etwas weiter im Stadtinneren liegen die teureren internationalen Modehäuser, mit Security am Eingang und ohne Kundschaft im Geschäft. Mit dem Baku von damals, als die Metropole auf der Abseron-Halbinsel im Kaspischen Meer noch das Mallorca der Polen und Tschechoslowaken war, haben die heutige Stadt und ihre Prachtbauten nicht mehr viel zu tun.

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Ein halb europäischer, halb orientalischer Touch der Architektur soll Baku Glanz und Glorie verleihen, die es hier so niemals gab.
Foto: dapd / Nigel Treblin

Der Schein der Historizität trügt mitunter. Hinter dem vielen Schmuck und Stuck stecken bisweilen moderne Hochhäuser aus Stahlbeton. Je höher, desto besser. Meist jedoch verbergen sich hinter den maschinell gefertigten Sandsteinfassaden heruntergewirtschaftete Plattenbauten aus den 1960er- und 70er-Jahren. Ein halb europäischer, halb orientalischer Touch soll ihnen Glanz und Glorie verleihen, die es hier so niemals gab: "Euro-Remont" nennt sich diese Sanierungsoffensive, die wie eine Schablone über die gesamte Stadt gelegt wurde.

Gerollter Teppich, galoppierende Haartolle

Doch auch die modernen, die Eindruck schindenden Prachtbauten dürfen nicht fehlen. Davon hat Präsident Ilham Aliyev, für dessen allmorgendliche und allabendliche Eskorte zwischen Wohnsitz und Parlament sämtliche Kreuzungen entlang der Fahrtroute quer durch die ganze Stadt abgeriegelt werden, gleich eine ganze Handvoll in Auftrag gegeben: Neben der Eurovision Crystal Hall und dem Teppichmuseum in Form eines zusammengerollten Exemplars sticht vor allem Zaha Hadids Heydar-Aliyev-Kulturzentrum ins Auge. Es trägt den Namen des längstgedienten Politikers in der ehemaligen Sowjetrepublik und der unabhängigen Republik Aserbaidschan.

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Neben der Eurovision Crystal Hall und dem Teppichmuseum in Form eines zusammengerollten Exemplars sticht vor allem Zaha Hadids Heydar-Aliyev-Kulturzentrum ins Auge. Es galoppiert wie eine futuristische Haartolle auf einer Hügelkuppe.

Der mit Designpreisen überhäufte 300-Millionen-Euro-Bau, für den ein ganzes Stadtviertel planiert werden musste und der heute wie eine futuristische Haartolle auf einer Hügelkuppe galoppiert, steht seit Monaten fast leer. Bis auf eine kleine Folklore-Ausstellung über aserbaidschanische Sitten und Bräuche tut sich nicht viel.

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Noch immer Feuer und Flamme für den Song Contest: Seit 2012 thronen die Flame Towers über der Innenstadt von Baku.

Mehr Glück haben die Flame Towers. Die 190 Meter hohen Drillingstürme, die wie eine Flammenkrone über der Stadt lodern, bergen Wohnungen und Büros, ein Shoppingcenter sowie das Fünf-Sterne-Hotel Fairmont. Nachts wird die neue Ikone Bakus in feurigen Farben beleuchtet. Ein Loblied auf Öl und Gas, eine Art städtisches Kaminfeuer für alle, errichtet nach Plänen des Stuttgarter Architekten Werner Sobek. Die Hülle wurde rechtzeitig zum Song Contest fertiggestellt, und vor knapp einem Jahr ging das Luxushotel, das seither in keinem Baku-Werbespot fehlen darf, in Betrieb.

Baku will Dubai werden

Bakus neues Selbstverständnis: Es will das neue Dubai werden. Die Bohrtürme auf Abseron und auf Neft Daslari, der weltweit einzigen Stelzenstadt im Meer, die 1948 ausschließlich zur Ölgewinnung errichtet wurde, sollen das möglich machen. Am östlichen Stadtrand entsteht Baku White City, ein Stadtteil für 50.000 Einwohner. Und im Westen der Stadt, auf dem Weg zu den Schlammvulkanen von Qobustan, Hazar Island, eine aufgeschüttete Stadt für Millionäre. Herzstück soll der 1050 Meter hohe Azerbaijan Tower sein, dessen Bau im kommenden Jahr beginnt.

Onkel Piotrs Baku

Doch wo ist das alte Baku? Jenes Baku, von dem mein polnischer Onkel Piotr damals, im Sommer 1986, so geschwärmt hat? Wohlbehütet von mittelalterlichen Stadtmauern wird die Içeri Seher mit all ihren durch und durch ehrlich steinernen Gemäuern und weit ausladenden, hölzernen Erkern, die jedes enge Gässchen in ein romantisches, witterungsgeschütztes Nadelöhr verwandeln. Tatsächlich zählt die historische Altstadt, die seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe ist, zu den schönsten und besterhaltenen Stadtkernen der Welt. Selten nur quält sich ein Auto über das Kopfsteinpflaster der bisweilen sehr steilen Straßen.

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Wohlbehütet von mittelalterlichen Stadtmauern wird die Altstadt Içeri Seher mit ihren durch und durch ehrlich steinernen Gemäuern und weit ausladenden, hölzernen Erkern.

Hier in Onkel Piotrs Welt ist die Welt noch in Ordnung. In den Restaurants werden Ovrishta, Lammeintopf mit karamellisierten Maroni und Granatapfelsauce, und kiloweise Kebab aufgetischt. Dazu gibt's büschelweise Kräutergrün von scharf bis bitter. Auf der Straße verkaufen alte Frauen Qutab. Das ist dünnes Fladenbrot aus dem Tandoori-Ofen, das mit faschiertem Fleisch und getrockneter Berberitze gegessen wird. Handweich und dampfig muss es sein. Eine Köstlichkeit für wenig Geld.

Und: In Onkel Piotrs heiler Urlaubswelt geht man abends in den Hamam. Was außerhalb der historischen Altstadt längst in Vergessenheit geraten ist, wird hier in der Içeri Seher mit Genuss und Genugtuung zelebriert. Im Aga Mikayil Hamami, einem kürzlich sanierten Dampfbad aus dem 18. Jahrhundert, kann man sich in osmanischer Manier schrubben und massieren lassen.

Asiens erste Europaspiele

"Früher hatten wir 100 bis 200 Gäste pro Tag", sagt Orxan Qasimov, 35 Jahre alt, Patron des Hauses. "Doch nach der Renovierung mussten wir mit den Preisen raufgehen, und die Besucherzahlen sind deutlich zurückgegangen. Die Stadt erneuert sich, wird immer europäischer, immer großartiger, doch am Ende können wir uns unser schönes altes Baku nicht mehr leisten. Ich hoffe, das wird nächstes Jahr mit den Europaspielen nicht noch schlimmer."

Die ersten Europäischen Olympischen Spiele werden also auf asiatischem Boden ausgetragen. Na und? Bis zum Juni 2015 ist Baku bestimmt schon wieder ein wenig europäischer geworden. Aber noch ist September, und es ist warm, die Haare sind jedoch nass. Orxan setzt sich seinen Milli-Papaq auf und verschwindet im altstädtischen Kandelaberschein. Im Hintergrund flackern die Flammen in Blau. (Wojciech Czaja, Rondo, DER STANDARD, 5.9.2014)