Die Stiegen in der Montrealer Innenstadt verwandeln sich in einen plätschernden Fluss, während in Köln ein riesiger Molch aus einem Tümpel im Asphalt schaut. Julian Beever schafft mit einfacher Kreide Fantasielandschaften in den Metropolen der Welt. Einerseits perfekt in ihr Umfeld eingebettet, reißen sie es zugleich optisch auf und überraschen die Passanten mit ungewöhnlichen Motiven. Aus einer zweidimensionalen Zeichnung wird je nach Blickwinkel ein faszinierendes dreidimensionales Kunstwerk oder eine weniger spektakuläre Verzerrung. Diese sogenannten anamorphen Bilder wirken am überzeugendsten, wenn sie durch eine Kamera betrachtet werden. In Fotos festgehalten, werden Beevers Kunstwerke zu perspektivischen Illusionen, die nun auf 96 Seiten im Bildband "Street Art: Dreidimensionale Kreidekunstwerke von Julian Beever" zu bestaunen sind.
Vom Wanderkünstler zum Internetphänomen
Julian Beever studierte Kunst an der Universität in Leeds und schuf seine ersten Kreidewerke in den 1990er-Jahren auf den Gehsteigen Englands. Seine Reisen durch Europa, Amerika und Australien finanzierte er sich anfänglich als Wanderkünstler. "Ständig unterwegs zu sein, neue Orte und Menschen kennenzulernen, ist spannend, aber auch ermüdend", beschreibt der gebürtige Brite seine Erlebnisse. Er sehnte sich nach einem Ort, an dem er bleiben und seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Diesen fand er in Brüssel, wo zahlreiche seiner Werke entstanden. Der Künstler genoss das Gespräch mit den einheimischen Liebhabern seiner Werke, erreichte aber zunächst nur ein kleines Publikum. Bekannt wurde er erst durch die Veröffentlichung seiner Bilder im Internet und die Verbreitung in sozialen Netzwerken.
Vergänglichkeit als Teil der Kunst
In 28 Ländern verschönerte der Kreidekünstler die innerstädtischen Straßen, wobei das größte Hindernis nicht polizeiliche Genehmigungen, sondern vor allem das Wetter war. Ein unfertiges und noch nicht fotografiertes Bild, das vom Regen weggespült wird, verärgert Beever, Vergänglichkeit an sich ist allerdings Teil seiner Kunstwerke. Die Verwendung von Kreide ermöglicht das schnelle Auftragen der Farbe, lässt die Zeichnung aber im Gegensatz zu Graffiti, zu einer temporären Erscheinung im öffentlichen Raum werden. Auch das Bild "Kleiner Unfall auf der Baustelle", das den Wiener Asphalt schmückte, ist heute nicht mehr existent. Es ziert jedoch das Titelbild von Beevers Bildband. (Britta Breuers, derStandard.at, 09.09.2014)