Das erwartete Bevölkerungswachstum in Wien bis 2034.

Grafik: STANDARD

Gustav Lebhart von der MA 23 hebt den interdisziplinären Ansatz und die Einrichtung von Subforen in der Annahmenfindung vor der Erstellung der Prognose hervor. Der breite Konsens im Vorfeld sei wichtig, damit die Prognose in allen Bereichen der Stadtverwaltung anerkannt werde.

Foto: Natascha Unkart

Im Jahr 2029 knackt Wien die Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze, ist das Ergebnis der jüngsten Bevölkerungsprognose der Bundeshauptstadt. Erstellt hat die Prognose Gustav Lebhart, er leitet die Landesstatistik Wien der MA 23. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt er, welche Parameter wie gewichtet wurden und welche Annahmen der Prognose zugrunde lagen.

Welcher Raum wie wächst, zeigt die nachfolgende Karte. Wenn Sie Ihre Adresse im Suchfeld eingeben, sehen Sie, wie sich die Bevölkerung Ihres Zählbezirks in den nächsten zehn Jahren verändern wird.

Die Prognose über die kleinräumige Bevölkerungsentwicklung in 250 Zählbezirken Wiens. Grafik: Markus Hametner/STANDARD

STANDARD: Welche Faktoren nehmen Einfluss auf die Wiener Bevölkerungsprognose?

Lebhart: Unsere Prognose besteht im Wesentlichen aus drei demografischen Ingredienzen, das sind die Geburten- und Sterbefälle sowie Migrationsbewegungen aus dem In- und Ausland. Bei den Geburten- und Sterbefällen können wir auf einer relativ gesicherten statistischen Evidenz aufbauen und auch plausible Hochrechnungen durchführen, da diese demografischen Ereignisse einem Menschen nur einmal im Leben passieren. Anders verhält es sich bei Wanderungsbewegungen, da Menschen höchst unterschiedliche Wanderungsmotive in ihren Lebensabschnitten aufweisen. In der Vergangenheit war das Wiener Migrationsgeschehen von hohen Fluktuationen geprägt und von geopolitischen Veränderungen oder Push- und Sogwirkungen etwa von Arbeitsmärkten bestimmt. Für Demografen ist die genaue Abschätzung des Wanderungsvolumens über einen mittel- bis langfristigen Trend daher relativ schwer zu prognostizieren. Wir analysieren unter anderem, wie sich etwa die Bevölkerungszusammensetzung in den Herkunftsländern verändert, zudem wurden Annahmen über die Wanderungsbewegungen zwischen Wien und den Bundesländern getroffen. Aus diesen Erkenntnissen versuchen wir dann ein Annahmenset zu finden und für die Zukunft hochzurechnen.

STANDARD: Welche Parameter werden dabei festgelegt?

Lebhart: Wir betrachten demografische Prozesse aus der Vergangenheit, um Parameter festzulegen. Bei der Geburtenentwicklung schauen wir uns die altersspezifischen Fertilitätsraten an. Die Gesamtfertilitätsrate – also die Anzahl der Kinder je Frau – in Wien hat sich in den letzten 25 Jahren kaum verändert, wir gehen weiterhin von einer konstanten Fertilitätsentwicklung aus. Bei der Mortalität betrachten wir die alters- und geschlechtsspezifische Sterbewahrscheinlichkeit beziehungsweise die Lebenserwartung und wie diese sich in den letzten Jahren verändert haben. Die Lebenserwartung steigt pro Jahrzehnt um ungefähr zweieinhalb Jahre, und wir gehen davon aus, dass dieser Trend sich auch in Wien fortsetzen wird. Bei der Migration schließlich wird es noch ein wenig komplizierter, da neben dem Volumen auch die entsprechenden Stromgrößen – also Zu- und Wegzüge – für eine Fortschreibung akribisch analysiert und räumlich gewichtet werden müssen.

STANDARD: Entwickeln Sie auch verschiedene Szenarien?

Lebhart: Wir versuchen, Bevölkerungsprognosen als demografische Planungshilfen zu etablieren. Theoretisch könnten wir natürlich verschiedene Szenarien entwickeln, beispielsweise mit einer Nullzuwanderung aus dem Ausland oder sinkender Lebenserwartung. Doch weil wir relativ gesicherte Entwicklungstrends für die Stadtplanung prognostizieren wollen, errechnen wir ein Szenario mit der wahrscheinlichsten Entwicklung.

STANDARD: Wie detailliert ist die MA-23-Prognose?

Lebhart: Planungsrelevante Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung können nur für einen Zeitraum von einigen Jahren getroffen werden. Wir sprechen hier von Prognosen. Für längere Perioden können demografische Annahmen nur noch Trends widerspiegeln. Bei einem Zeitraum von zehn bis 20 Jahren reden wir bei kleinräumigen Bevölkerungsvorausschätzungen von Projektionen. Bestimmte Parameter werden in dieser Phase zum Teil konstant gehalten, da treffen wir auch keine gesonderten Annahmen mehr. Beim Zeitraum von über 20 Jahren können wir bei kleinräumigen Bevölkerungsvorausschätzungen bereits von einer Modellfortschreibung sprechen. Hier werden die Parameter für alle Prozesse konstant gehalten. Wir schaffen so eine differenzierte Aussagekraft über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung.

STANDARD: Nun erstellt neben der Stadt Wien auch die Statistik Austria eine Bevölkerungsprognose für Wien. Wie unterscheiden sich diese Prognosen?

Lebhart: Es gibt im Wesentlichen zwei Unterschiede. Wir gehen zum einen davon aus, dass die Gesamtfertilität in Wien nicht steigen wird, sondern konstant bleibt. Und wir unterscheiden uns sehr stark in den Migrationsannahmen aus dem In- und Ausland. Wir gehen in der ersten Phase unseres Prognosehorizonts von einer stärkeren Zuwanderung aus dem Ausland aus, als es die Statistik Austria prognostiziert – gemeinsam ist, dass hier mittelfristig ein Rückgang erwartet wird. Das bedeutet, dass wir in den ersten zehn bis 15 Jahren ein stärkeres Bevölkerungswachstum haben als im Vergleich mit der letzten Bundeslandprognose der Statistik Austria. Aber auch bei der Binnenwanderung unterscheiden wir uns, da wir mittel- und langfristig insgesamt von leichten Binnenwanderungsgewinnen gegenüber Restösterreich ausgehen. In der Lebenserwartung sind wir mit der Statistik Austria konform, da haben wir auch die Daten der letzten Bundeslandprognose eins zu eins übernommen.

STANDARD: Streiten Sie dann mit der Statistik Austria darüber, welche Prognose zutreffender ist?

Lebhart: Wir werden sicher auch in Zukunft über demografische Entwicklungen diskutieren und womöglich unterschiedliche Auffassungen vertreten. Wichtig ist aber, dass wir einen erkenntnistheoretischen und sozialkritischen Diskurs führen, damit die Annahmen mit einer wohlbegründeten Erwartungspräferenz nachvollziehbar sind. Bei unserer Prognose in Wien haben wir Foren für zwei verschiedene Bereiche durchgeführt. Bedienstete der Stadt Wien, die mit dem Thema Migration zu tun haben, haben uns in der Annahmenfindung unterstützt. Das zweite Forum beschäftigte sich mit der Neubautätigkeit in Wien, da diese vor allem das Binnenwanderungsvolumen innerhalb der Stadt stark beeinflussen. Sie können sich vorstellen, dass es für den Stadtteil beziehungsweise diesen Zählbezirk eine enorme bevölkerungsrelevante Bedeutung hat, wenn Wohnhausanlagen mit zwei- bis dreitausend Wohnungen gebaut werden.

STANDARD: Diese Annahmenfindung im Magistrat war also ein zentraler Bestandteil bei der Erstellung der vorliegenden Prognose.

Lebhart: Ja, und unser Ansatz ist zudem ein interdisziplinärer. Gerade in der Quantifizierung von zukünftigen Geschehnissen ist es schwierig, Zahlen zu produzieren, da die äußeren Einflussfaktoren auch stark von qualitativen Bewertungen abhängen. Was bedeutet es, wenn im osteuropäischen Raum die Fertilität auf sehr niedrigem Niveau ist und ein Bevölkerungsrückgang für die Zukunft prognostiziert wird? Welche Auswirkungen hat das auf das Migrationspotenzial in den Herkunftsländern? Wie könnte sich in den nächsten Jahrzehnten die demografische Landschaft in Europa verändern? Oder welche Auswirkungen sind zu erwarten, wenn deutsche Studierende nach Abschluss ihres Studium nicht in Wien bleiben? So haben wir in den verschiedensten Bereichen versucht, Annahmen für die Zuwanderung nach Wien zu definieren beziehungsweise diese zu quantifizieren.

STANDARD: Wird irgendwo mehr gebaut, weil Sie in diesem Bereich ein Bevölkerungswachstum prognostizieren?

Lebhart: Natürlich orientiert sich die Stadtplanung an den Bevölkerungsprognosen – deshalb machen wir diese ja. Andersherum liefert der Wohnungsbau aber auch einen wichtigen Input, da wir die Bewohnerinnen und Bewohner Wiens ja auf die Zählbezirke zurechnen müssen. Als Grundlage dienen von der Stadtplanung gesammelte Einschätzungen über den möglichen Umfang und die frühestmögliche Fertigstellung von Wohnbauprojekten auf bekannten Baulandpotenzialflächen. Wir kooperieren daher eng mit den Stadtplanungsdienststellen.

STANDARD: Ist dann auch schon die U5 eingeplant?

Lebhart: Nein. Zu dem Zeitpunkt, als wir die Prognose erstellt haben, war sie noch nicht fixiert. Dafür haben wir das Neubaumodul in unsere Prognose integriert, womit wir Bevölkerungsverschiebungen gut prognostizieren können. Hier bekommen wir gute Informationen aus den zuständigen Magistratsabteilungen und Baudirektionen, die uns dann sagen, wie wahrscheinlich es ist, wo wie viele Wohnungen gebaut werden.

STANDARD: Lässt sich auch der Bildungsstand prognostizieren?

Lebhart: Ja, aber die vorliegende Bevölkerungsprognose der MA 23 liefert nur Informationen über die demografischen Komponenten. Der Charme der kleinräumigen Bevölkerungsprognose liegt darin, dass alle demografischen Prozesse nach Alter und Geschlecht sowie nach dem Geburtsland aufbereitet wurden. Das ist erstmalig passiert. Was die Bildung betrifft, so können Sekundärprognosen auf Basis der Bevölkerungsprognose erstellt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass wir in der MA 23 anschließend eine Bildungs-/Schulprognose und in weiterer Folge eine Haushalts- und eine Erwerbsprognose konzipieren. Hier würden wir ebenfalls mit den entsprechenden Dienststellen des Magistrats kooperieren und zu Diskussionsrunden einladen. Denn es ist wichtig, dass wir für Annahmenfindung einen breiten Konsens finden.

STANDARD: Wie sieht es mit der Binnenwanderung innerhalb Wiens aus?

Lebhart: Hier haben wir eine Raumtypisierung vorgenommen. Bei manchen Zählbezirken konnten wir eine höhere Bindung zu anderen Stadtteilen feststellen und bei anderen eine geringere. Ein Beispiel: Aus dem 1. Bezirk ziehen die Leute kaum in den transdanubischen Raum. Diese Wegzugswahrscheinlichkeit ist unterdurchschnittlich - um das vorsichtig auszudrücken. Ein ähnliches Phänomen erkennen wir im 19. Bezirk, auch von dort gibt es kaum Wanderungsintensität über die Donau. Eine hohe Affinität haben wir zwischen dem 1., dem 18. und dem 19. Bezirk. Hier gibt es Wanderungsneigungen, die dann in einer entsprechenden statistischen Analyse zu Raumtypen zusammengefasst werden können.

STANDARD: Wie sehen diese Annahmen in der Fertilität aus?

Lebhart: Die Analyse der Geburtenentwicklung und des Fertilitätsniveaus wurde auf Zählbezirksebene durchgeführt. Ein Zählbezirk repräsentiert somit einen Teil eines "Fertilitätsclusters", das heißt, innerhalb eines Wiener Gemeindebezirks können mehrere "Fertilitätscluster" auftreten. Insgesamt haben wir sechs Fertilitätstypen ermittelt. Das Fertilitätsniveau für Wien bleibt nach unseren Annahmen unverändert, wobei das Fertilitätsalter kurz- und mittelfristig weiterhin zunehmen wird.

STANDARD: Geben Sie dann den Kollegen in den anderen Magistratsabteilungen Ratschläge, was bei den Prognoseergebnissen zu beachten sein wird?

Lebhart: Nur indirekt, da wir uns als 400-Meter-Staffelläufer sehen: Wir in der Landesstatistik Wien laufen die ersten 400 Meter, dann übergeben wir den Stab an die Kollegen. Und anschließend bleiben wir sportlich und feuern sie bei ihrem Lauf an, indem wir helfen, weiterführende Daten aufzubereiten und den Interpretationsspielraum, der sich aus den vorliegenden Prognoseergebnissen ergeben kann, für die jeweiligen Bereiche zu präzisieren. (Florian Gossy, derStandard.at, 4.9.2014)