"Die neue Landkarte Europas wird sehr zögerlich gelernt, nicht nur von der EU. Und letztlich ist die gegenwärtige Ukraine-Russland-Krise ein Ausfluss dieser Situation", sagt Erhard Busek.

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STANDARD: „Annus mirabilis“, ein Wunderjahr, nennen Sie 1989 in Ihrem neuen Buch „Lebensbilder“. Seither ist ein Vierteljahrhundert vergangen. War alles danach wunderbar – oder gab’s auch blaue Wunder?

Busek: Zunächst muss man sagen, es kann etwas ein wunderbares Ereignis sein, aber es gibt keine Garantie, dass alles, was danach folgt, genauso ein Wunder ist. Und das war auch hier nicht der Fall. Das waren die Wirklichkeiten, die in Europa zu Hause sind. Wobei ich folgende Punkte kritisch sehe: Zum einen: Diese neue Landkarte Europas, die zum Teil ja eine alte ist, wird bis heute sehr zögerlich gelernt. Nicht nur von der Europäischen Union, sondern von allen europäischen Ländern, vor allem den westeuropäischen. Das schlägt sich eindeutig nieder. Und letztlich ist die gegenwärtige Ukraine-Russland-Krise ein Ausfluss dieser Situation. Außerdem wurden die Notwendigkeiten nicht wahrgenommen. Hier möchte ich erwähnen, dass man in den Transformationsstaaten, also jenen, die zum Sowjetblock gehört haben, weitaus mehr für die Bildung tun hätte müssen. Aber das wäre auch unsere Verantwortung gewesen, denn eine Reihe von Problemen, die heute sichtbar werden, sind ein Ergebnis der mangelnden Bildung. Und das Dritte ist: Man hat sich auf dem Weg zur Erweiterung sehr viel Zeit gelassen bzw. auch zu wenig Alternativen dazu entwickelt. Es sind nicht alle Staaten wirklich geeignet, auch tatsächlich EU-Mitglied zu werden, aber irgendein System einer wirksamen Nachbarschaftspolitik hätte man treffen sollen. Die Nachbarschaftspolitik der EU ist eigentlich nur eine Überschrift geblieben.

STANDARD: Sie haben jetzt 1989 aus der EU-Perspektive analysiert. War Europa – neben dem globalen Umbruch mit dem Ende des Kalten Krieges – die im übertragenen Sinn wichtigste geopolitische Folge der historischen Prozesse von 1989?

Busek: Ich würde einschränken: Die Chance, Europa zu bilden, ist dadurch entstanden. Genutzt haben wir sie in dem Ausmaß, in dem es notwendig wäre, nicht. Wir müssen wissen, dass wir Europäer nur mehr sieben Prozent der Weltbevölkerung betragen, ein bisschen mehr als 30 Prozent der Wirtschaftskraft haben, die auch nicht unbedingt bleibend ist, aber die Konsequenzen daraus haben wir noch nicht gezogen. Europa ist nicht handlungsfähig. Vor allem auch außenpolitisch, wenn ich etwa auf die Krisen in der Nachbarschaft oder im Nahen Osten verweise.

STANDARD: Die STANDARD-Schwerpunktausgabe zielt thematisch auf „Die neue UnOrdnung“ – was kam anders als von Ihnen erwartet? Wie viel Ordnung bzw. Unordnung sehen Sie? Es gibt doch in einigen Ländern enorme Krisenerscheinungen. Mitunter scheint sich bloß – was ja an sich nicht wenig ist – die Demokratie in den Institutionen etabliert zu haben, aber in den Gesellschaften ist die liberale Demokratie nicht überall angekommen.

Busek: Ich habe nicht zu jenen gezählt, die so sonnig waren und gesagt haben, das ist, wie wenn man einen Schalter umlegt, und plötzlich sind das Demokratien und funktionsfähige Marktwirtschaften usw. Mir war schon klar, dass das eine Zeit dauert. Was mich hier überrascht hat, ist, dass es ein sehr diffferenzierter Prozess ist. Wir haben Länder, die das besser geschafft haben. Und wir haben Länder, die weit hinterher sind. Dass es da nicht zu einer entsprechenden Solidaritätsentwicklung gekommen ist, ist an sich bedauerlich. Das sehe ich kritisch, weil es ja ein gemeinsames Interesse hätte sein müssen. In Summe würde ich allerdings sagen: Das, was bis jetzt dabei herausgekommen ist, ist schon auch beachtlich. Man kann natürlich sagen, 25 Jahre sind ein langer Zeitraum, umgekehrt sind sie aber auch ein kurzer Zeitraum. Was mich besorgt macht, ist, dass wir in einem ungeheuren Tempo eine Dramatisierung der Situation bekommen, und da ist diese neue Formation von Europa noch nicht gelungen. Das spüren wir sehr deutlich.

STANDARD: Welche Länder haben sich am besten entwickelt?

Busek: Ich würde sagen, Tschechien, Slowakei und Polen sind ganz gut gegangen. Also alle jene, die die Transformation auch wirklich durchgeführt haben. Die Ungarn haben sehr gut begonnen, aber dann einen Schub Nationalismus bekommen, der sie heute hindert. Die Slowenen haben die Transformation vor allem im Wirtschaftsbereich nicht ernst genommen, daher haben sie heute die bekannten Probleme. Südosteuropa hängt natürlich zurück, weil sich die Europäische Union da nicht sehr beteiligt hat.

STANDARD: Apropos Ungarn: Sie haben den jungen Viktor Orbán bei der Gründung seiner Partei Fidesz unterstützt. Der ist ja nun eher unter einer gewissen „Unordnung“ nach 1989 zu verbuchen. Sind Sie enttäuscht von Orbán?

Busek: Er hat linksliberal begonnen, ist offensichtlich dann unter dem Eindruck gewesen, dass rechts neben ihm etwas entsteht, nämlich die rechtsextreme Jobbik. Er hat dann eine Strategie gewählt, die Franz-Josef Strauß in Bayern einmal beschrieben hat mit: Rechts neben mir ist die Wand. Das ist nun in Ungarn nicht der Fall, sondern da gibt es eine eigenständige Entwicklung, und Orbán hat geglaubt, er muss hier überholen oder auch diesen Weg gehen. Man merkt das an Unstimmigkeiten der ungarischen Politik, wie etwa dass er angesichts der Vorgänge in Budapest 1956 jetzt plötzlich als Putinfreund auftritt. Das ist von beeindruckender Unlogik. Man muss dazusagen, dass es in Ungarn eine gewisse nationalistische Tradition gibt, die sich in der Kritik am Vertrag von Trianon ausdrückt, mit dem nach dem Ersten Weltkrieg Ungarn auf ein Drittel reduziert wurde. Der große Fehler der Ungarn ist, dass sie der Meinung sind, diese restlichen zwei Drittel wären eigentlich immer unagrisch gewesen – in Wahrheit aber sind die Ungarn dort eine Minderheit.

STANDARD: Wie resümieren Sie Österreichs Bilanz 25 Jahre danach?

Busek: Sehr kritisch. Wir haben mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Beitritt zur Europäischen Union eine Chance erhalten, uns neu zu positionieren. Ein Bereich hat sie genutzt, das ist die Wirtschaft, die hat sich in der Mitte Europas erfolgreich neu aufgestellt, bei allen Schwierigkeiten, die es auch heute gibt. Aber die Politik hat es verabsäumt, bestimmte Gruppenbildungen im eigenen Interesse zu betreiben. Die zögerliche Durchführung von Infrastrukturinvestitionen ist nur ein Symbol dafür. Da wäre durchaus mehr drin gewesen. Mitteleuropa ist in dem Sinn keine Bedrohung, sondern eine Chance. Das wurde versäumt.

STANDARD: Sie waren einer jener Politiker, die intensive Verbindungen „nach drüben“ hatten und mit Dissidenten in Verbindung standen. Das fanden damals nicht alle gut. Die Gemengelage in der SPÖ und der ÖVP war da ja recht unterschiedlich. Warum eigentlich?

Busek: Österreich hatte nach 1945 oder nach der Besatzungszeit eine sehr starke Westorientierung, Orientierung nach Amerika und dann zur entstehenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Dazu hat man dann den Osten quasi als Alternativkonzept gesehen. So ist mir immer vorgehalten worden, dass ich „ostanfällig“ sei. Dass aber Europa in Wahrheit in dieser Gemeinsamkeit entstehen muss und auch die EU heute zögerlich diesen Weg geht, ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass das die richtige Konzeption ist. Das war eine Ostablehnung, die ich sehr bedaure und die sich auch heute noch in einer Reihe von Dingen niederschlägt, etwa dass wir in diesen Ländern zu wenig vertreten sind. Ich meine nicht Botschaften, sondern wir könnten zum Beispiel österreichische Schulen in unserer Nachbarschaft haben oder andere Bildungseinrichtungen. Aber das ist alles sehr, sehr schwach.

STANDARD: Bei welchem Ereignis im Jahr 1989 haben Sie gedacht: Ja, jetzt passiert wirklich etwas Großes? Immerhin schreiben Sie in Ihrem Buch: „Wir wussten nicht, ob der Eiserne Vorhang überhaupt fällt.“

Busek: Das wirklich dramatische Ereignis war für mich der runde Tisch im August 1989 in Polen. Dass das dort zugelassen wurde, zeigte für mich klar, dass jetzt die Dinge an sich bröckeln. Das hat mich am meisten beeindruckt. Wobei ich das in einer eigenartigen Situation miterlebt habe. Es gab vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen die Castel-Gandolfo-Tagungen beim damaligen Papst Johannes Paul II. Ich habe dort aus der Nähe erlebt, wie der Papst quasi Regieanweisungen und Ähnliches an die Verhandler, den katholischen Publizisten Tadeusz Mazowiecki usw., gegeben hat. Das war für mich besonders einprägend.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie dazu: „In Rom habe ich die Geschichte knistern hören.“

Busek: Genauso war es. Das war sehr beeindruckend, weil auch das Rundherum dieser Castel-Gandolfo-Tagungen eigenartig war. Da waren nicht katholische Wissenschafter in der Mehrheit, im Gegenteil, da waren Menschen aus aller Welt und vielen Richtungen, eine starke jüdische Komponente, und das hatte einen ganz besonderen Hauch in der Auswirkung.

STANDARD: Und welche Persönlichkeiten waren entscheidend – im Osten wie im Westen?

Busek: Die offizielle Version ist immer, dass drei Personen wichtig waren, nämlich der Papst, Gorbatschow und Reagan. Ich bin eher der Meinung, dass die wirklich entscheidenden Figuren die Dissidenten waren, die das eigentlich alles gemacht haben unter schrecklichen Bedingungen. Tadeusz Mazowiecki, auf seine Art Lech Walesa oder Václav Havel, das sind ganz entscheidende Figuren gewesen. Eigentlich sollte man die zelebrieren und nicht die Großen. Die haben nachvollzogen, was sich hier entwickelt hat.

STANDARD: Wie und wo haben Sie eigentlich die Nacht des Mauerfalls erlebt, die für viele ja das Symbol schlechthin wurde?

Busek: Ich muss Sie enttäuschen, ich weiß es nicht mehr. Ich war von den ganzen Ereignissen so gefangen, dass ich eigentlich permanent an allen Informationsquellen gehangen bin. Ich bin ja auch persönlich der Meinung, dass der Mauerfall natürlich eine große Symbolwirkung hatte, dass aber in Wahrheit die Veränderungen in all diesen Ländern mindestens die gleiche Bedeutung gehabt haben. Nur, die haben keine Mauern gehabt. Man hat dann mit dem berühmt gewordenen Bild mit Alois Mock und Guyla Horn versucht, den Eisernen Vorhang gegenüber Ungarn nachzustellen, um auch hier Sichtbarkeit zu schaffen, was ich eine gute Aktion gefunden habe, denn man braucht auch Bilder in der Geschichte, aber es war ein genereller Vorgang eines Zerbröselns einer Supermacht.

STANDARD: 1989 war ja auch für Österreich ein besonderes Jahr, nämlich jenes, in dem der Brief nach Brüssel mit dem Aufnahmegesuch in die damals noch Europäische Gemeinschaft geschrieben wurde. Würden Sie das auch einreihen in die größere, unterschwellige Änderung rundherum – oder war es Zufall, dass Österreich bzw. die Regierungsparteien sich damals reif für diesen großen Schritt fühlten?

Busek: Die eigentliche Bedeutung dieser Entwicklung liegt darin, dass wir gelernt haben, uns nicht mehr vor Moskau zu fürchten. Das war ein entscheidendes Element für den Zweifel an einem EG- oder EWG-Beitritt, das hier geherrscht hat. Und 1989 haben wir gewusst, dass das nicht mehr notwendig ist. Trotzdem haben wir in diesem Schreiben ganz ängstlich die österreichische Neutralität betont, was auch schon überflüssig war.

STANDARD: Geschichte ist niemals abgeschlossen, aber dennoch sei gefragt: Wo sehen Sie die wichtigsten noch unaufgearbeiteten Folgen dieser Ereignisse von 1989?

Busek: In den Relationen der Länder zueinander, weil durchaus alte Spannungen herausgekommen sind, nicht nur am Balkan. Das ist rückblickend noch nicht abgearbeitet worden. Und das Zweite, die Spannungselemente, die heute sehr deutlich sichtbar werden, sind das Erbe der Sowjetunion und der weiteren Gestaltung – plus, das muss man deutlich dazusagen, dass Europa nach wie vor keine Relation zum Nahen Osten gefunden hat. Das ist aber in ganz enger Nachbarschaft. Das beginnt beim Schwarzen Meer. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 6.8.2014)