Wir erleben heuer ein Krisen- und Angstjahr infolge der Eskalation des Konflikts mit Russland und des Zerbrechens staatlicher Gebilde durch Gewalt und Terror im Nahen Osten (Irak, Syrien, Libyen). Niemand kann sagen, wo und wann und wie die drohende chaotische Dauerkrise enden wird. In diesem Zusammenhang rücken immer mehr die Person Wladimir Putins, seit 15 Jahren der starke Mann Russlands, und sein Handlungspotenzial in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Umgekehrt ist aus der "Obamania", der rauschhaften Begeisterung 2008 nach der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, aus den übersteigerten Erwartungen in der zweiten Amtszeit seit 2012 kaum etwas übrig geblieben.

Die Sehnsucht nach dem "starken Mann" hängt auch mit Tendenzen zur persönlichen Machtkonzentration in so unterschiedlichen Staaten wie China, der Türkei und Ungarn zusammen. Auch in den demokratischen Staaten (nicht zuletzt in Österreich) zeigen vor allem in wirtschaftlichen oder politischen Krisensituationen die diversen Meinungsumfragen stets auch ein heißes Sehnen nach dem "starken Mann".

Nicht nur in weltgeschichtlichen Krisensituationen, sondern auch in der jüngsten mittel- und osteuropäischen Geschichte waren und sind die Konflikte zwischen Freiheitsdrang und Diktatur, zwischen den Kräften der Beharrung und Reform, zwischen Öffnung und Abkapselung mit geradezu dramatischen Wandlungen der politischen Führungspersönlichkeiten verbunden.

Die Kombination von Macht und Hochmut bildet oft die Grundlage für politisches Scheitern. Bei Begegnungen mit Helden und Verrätern, Aufsteigern und Verlierern in der Politik Mittel- und Osteuropas musste ich oft an die Mahnung des großen französischen Kulturphilosophen Paul Valéry denken: Jeder Herrscher wisse, wie zerbrechlich die Autorität von Herrschern sei - nur in Bezug auf die eigene wisse er es nicht ...

Das galt voll und ganz nicht nur für den plötzlichen Sturz des rumänischen Tyrannen Nicolae Ceausescu nach seiner fast ein Vierteljahrhundert langen Ära des Größenwahnsinns, sondern auch zwei Jahrzehnte danach für die Serie gewaltsamer Absetzungen der langjährigen Machthaber während des (kurzlebigen) Arabischen Frühlings.

Programme und Institutionen können Tatkraft, Mut und Verantwortungsbewusstsein der Führungspersönlichkeiten nicht ersetzen. Hugo von Hofmannsthal schrieb einmal: "Politik ist Magie. Welcher die Mächte aufzurufen weiß, dem gehorchen sie." Bruno Kreisky war ein solcher Magier. Fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod und dreißig Jahre nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler ist die Faszination dieses Mannes ungebrochen.

Bruno Kreisky war vor allem der Sieger. Er hatte die österreichische Sozialdemokratie zu einer in der modernen europäischen Geschichte einzigartigen Serie von fünf Wahlsiegen und zur dreimaligen Erringung der absoluten Mehrheit geführt. Er hat der Republik Österreich als Außenminister und Bundeskanzler während zweier Jahrzehnte internationalen Glanz verliehen, den sie niemals zuvor gehabt hatte und höchstwahrscheinlich in der Zukunft kaum mehr gewinnen wird.

Max Weber schrieb in seiner berühmten Schrift Politik als Beruf, dass für den Politiker eine der entscheidenden Qualitäten die Leidenschaft sei, die leidenschaftliche Hingabe an eine "Sache". Natürlich erstrebte auch der Politiker Kreisky Macht und wollte sogar noch 72-jährig, auf einem Auge blind und dreimal in der Woche wegen seiner schweren Nierenkrankheit jeweils einer vierstündigen Blutwäsche unterworfen, an der Macht bleiben.

Es geht aber nicht darum, ob ein Politiker Macht oder einen Machtanteil anstrebt, sondern darum, wie er diese Macht einsetzt, was er mit ihr erreichen will. Die "Sache", die bereits der junge Kreisky "zum entscheidenden Leitstern des Handelns" machte, war die sozialdemokratische Bewegung, der ehrliche Glaube an die zutiefst humanitären Zielvorstellungen seiner Partei im historischen Sinn.

Eine Bewegung, die Kreisky stets trotz aller Irrwege und Wandlungen als eine Gesinnungsgemeinschaft der Solidarität und der Offenheit und nicht als eine Ansammlung von Cliquen, von ängstlich karrierebedachten und risikoscheuen Anpassern in kleineren und größeren bürokratischen Apparaten verstanden hat.

Trotz all seiner Fehler und menschlichen Schwächen haben Anhänger und Gegner Kreiskys Charisma anerkannt. Was ist nun dieser schillernde Begriff Charisma? Zu Recht spricht man über eine gewisse Mehrdeutigkeit in den Max-Weber-Zitaten: "Charisma soll eine als außeralltäglich (...) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen (...) Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer' gewertet wird. Darauf allein, wie sie (die Qualität, Anm.) tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den 'Anhängern' bewertet wird, kommt es an."

Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes Charisma ist "Gnadengabe". Über die Geltung des Charismas, schreibt Weber, entscheidet die durch Bewährung gesicherte Anerkennung durch die Beherrschten. Das Charisma muss sich also durch Erfolge bewähren.

Echtes und falsches Charisma

Mit dem Unterschied zwischen "echtem" und "falschem" Charisma, mit der Gefährlichkeit der von Weber vertretenen "plebiszitären Führerdemokratie" bis an die Grenze des autoritären Führerstaates beschäftigte sich auch der deutsche Historiker Hans Mommsen. In diesem Sinne entsprach Kreiskys - und auch Willy Brandts - Wirken dem von Mommsen hervorgehobenen "echten demokratischen Charisma", das sich die positive Wertverwirklichung im Dienste der Gesamtheit zum Ziel setze. Dagegen verurteilt er "das falsche Charisma, das durch den Appell an die niederen Instink- te und emotionalen Triebe der Massen den Volkswillen korrumpiert und zum Hebel benützt, um eine Gewaltherrschaft aufzurichten".

Die Sehnsucht nach dem "starken Mann" wird nicht nur durch Putin, sondern auch durch solche Persönlichkeiten wie den kürzlich gewählten Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in der Türkei und den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, den seit 25 Jahren regierenden Staatschef Kasachstans Nursultan Nasarbajew und den seit 20 Jahren herrschenden Präsidenten Weißrusslands Aleksander Lukaschenko, erfüllt.

Sie sind scheinbar durch eine klare Mehrheit bei den jeweiligen Wahlen legitimiert. Antiwestlicher Nationalismus und Populismus, unterstützt durch die jeweilige Amtskirche, eine voluntaristische Wirtschaftspolitik, direkte oder indirekte Kontrolle der meisten TV-Sender und der Printmedien, keine unabhängige Justiz und die totale Herrschaft über die Armee, die Polizei und den Geheimdienst sind die charakteristischen Merkmale ihrer autokratischen Systeme.

Der Preis, den die Menschen für die Herrschaft des "starken Mannes" mit dem "falschen Charisma" zahlen, wird immer unvergleichlich größer sein als die Kosten der langsam funktionierenden Demokratie, in der die politische Macht durch Institutionen gezähmt, geteilt und kontrolliert wird.