Poesie in Digitalzeiten: Der kanadische Konzeptualist Christian Bök wird diesen Bakterien die DNA-Sequenz eines Bök-Gedichtes injizieren. Viel Spaß bei der Lektüre!

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Fritz Ostermayer, geboren 1956 in Schattendorf (Burgenland), ist Journalist, Radiomacher (FM4 "Im Sumpf"), Autor, DJ und Musiker sowie Direktor der Schule für Dichtung in Wien. Das Konzept-Literatur-Festival "Der Tod des Autors (reloaded)", eine Kooperation der Schule für Dichtung und des Wiener Literaturhauses, findet am 26. und 27. September im Literaturhaus statt. Mitwirkende: Johannes Ullmaier, Traumawien, Sandra Huber / Thomas Curie, K. T. Zakravsky, Raimund Drommel, Daniela Seel und Christian Bök.

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Das Internet ausdrucken! Wenn einer öffentlich verlautbarte, er werde "das gesamte Internet ausdrucken", dann klatschte ich diesem tollen Narren so heftig Beifall, als würde er mir kundtun, er gehe jetzt den Atlantik aussaufen. Oder wenigstens durchschwimmen - wie Herbert Achternbusch es in seinem grandiosen Film Der Atlantikschwimmer vorhatte und sich dabei selbst Mut zusprach: "Du hast keine Chance, aber nutze sie."

Der New Yorker Autor, Konzeptkünstler und tolle Narr Kenneth Goldsmith nutzte seine nicht vorhandene Chance im Sommer 2013. In einer nur 500 Quadratmeter großen Galerie in Mexiko-Stadt sollte "the entire internet" als Papier gestapelt werden. In seinem Blog bat Goldsmith um Ausdrucke von Websites und Mails, die man ihm via guten alten Postweg zukommen lassen sollte. Innerhalb zweier Monate wogen die eingelangten Seiten samt den von ihm selbst fleißig ausgedruckten bereits zehn Tonnen. Schnell freilich errechneten Erbsenzähler, dass das papierene Internet zum aktuellen Zeitpunkt aus ungefähr 4,73 Milliarden A4-Blättern bestünde, die übereinandergestapelt einen 500 Kilometer hohen Turm ergäben. Was Sisyphos Goldsmith nicht weiter störte. Denn erstens wollte der Künstler mit dieser Mission impossible dem kurz zuvor durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Netzaktivisten Aaron Svartz ein Denkmal setzen, weil er in ihm einen Verbündeten im Kampf gegen die Zugangsbeschränkungen zu wissenschaftlichen Publikationen und Kunst im Netz gesehen hatte. Und zweitens: "conceptual literature" eben. Mit besonderer Berücksichtigung der Preisgabe jeder singulären Autorenschaft bzw. Forcierung einer unbegrenzt multiplen an der Grenze zur reinen Kakofonie: alle Postings aller Poster dieser Welt - nur so zum Beispiel - als ein einziges zum Himmel schreiendes (stinkendes?) Gedicht!

So hatten sich das die strukturalistischen GrabrednerInnen in den späten 60er-Jahren sicher nicht vorgestellt, als sie den "Tod des Autors" (Roland Barthes) oder zumindest dessen "Verabschiedung zugunsten einer universalen Intertextualität" (Julia Kristeva) proklamierten, ging es ihnen - und mit ihnen auch vielen DichterInnen - vorrangig doch um die Dekonstruktion des Autors als "schöpferischer Autorität" und den Sturz individueller Diskursherrschaft zugunsten eines kollektiven Sprechens (man stand ja in, um und um 1968 herum!).

Im digitalen Heute von Blog-Kultur und Social Media ist nun tatsächlich jede(r) LeserIn gleichzeitig auch AutorIn (Englisch: "wreader" - aus "reader" und "writer") geworden, doch das hehre Ziel der Strukturalisten, Text per se als Fremdtext, als "gesampelt" zu begreifen, um so dem großkotzigen Phantasma "Ich-Erzähler" an die Gurgel zu gehen, hat sich blöderweise in sein Gegenteil verkehrt: Abermillionen Egos schreien im Netz "Ich! Ich! Ich!" und meinen auch nur sich selbst und ihre kleinen Erzählungen, von denen sie glauben, dass in ihnen die einzig richtige Wahrheit stecke, mit der sie auf die falschen Wahrheiten aller anderen Ich-Schreier eindreschen könnten. (Es ist wie in seligen Punkzeiten: Die Demokratie hat gesiegt, alle spielen in Punkbands, die kein Schwein hören will.) Möcht eigentlich nur sagen: Der "Tod des Autors" geht und ging sowohl dem alten Leser als auch der neuen WreaderIn einfach am Arsch vorbei.

Wieder brav erzählen

Und nicht nur denen. Auch der Literaturbetrieb ist heilfroh, dass das Gros der zeitgenössischen AutorInnen sich nicht mehr den Kopf über semiotische Fragen nach "Originalität" und "Text als multidimensionaler Raum" zerbrechen will, sondern endlich wieder brav erzählt, vorzugsweise in der Ich-Form. Und selbstverständlich autobiografisch, mit ein paar geborgten Semi-Ichs als postmoderne "Verflüssigung". Wäre ich ein Zyniker, der ich nie und nimmer sein möchte, dann würde ich stänkern: Glücklich der Autor, der noch einen Nazi-Urgroßonkel sein Eigen nennt! Glücklich die Autorin mit schrecklicher Kindheit in der DDR! Glücklich die nächste "Entdeckung der Saison", die früh schon vom Elternhaus ins Prekäre floh! Sie alle können von Dingen erzählen, die der Leserschaft und dem Betrieb runtergehen wie Honig: Geschichten von "Schuld und Verantwortung der Nachgeborenen", von "innerer Selbst- und Sinnsuche", von "Befreiungsversuchen des Individuums" und wie solch literarische Familienaufstellungen in heißluftigen Klappentexten sonst heißen mögen.

Aber so ein Zyniker bin ich nicht: Soll alles sein! Solange uns Menschlein ein Schicksal überhaupt noch ereilen kann (wer weiß, wie lange noch!) und unsere Herzen deswegen über- oder untergehen, haben wir jedes Recht und Grund genug, diese Zumutungen in Worte zu fassen. Es nervt allein die reaktionäre Reduktion von Literatur auf das Narrative, das leicht oder schwer von der Seele Geschriebene und die daher so tüchtig aus dem Unkraut schießende, Creative-Writing-geschulte Befindlichkeitsprosa und Bekenntnisliteratur. Und noch mehr nervt das gelahrte Gelaber, mit der Dichtung scheint's bis heute pauschal gesalbt werden muss; unlängst erst etwa von der Literaturkritikerin Wiebke Porombka, die als Jury-Sprecherin die Nominierten der Shortlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis mit den Worten pries: "Sie erweitern unseren Blick auf das Leben und unsere Gegenwart und justieren ihn neu." Schas mit Quastln hätte man früher zu solch bildungsheischender Phrasendrescherei gesagt. Auf smsisch: Hallo? Geht's noch?

Schnell weiter zu wirklich neuen Justierungen! Und die gibt es tatsächlich - nur halt abseits all der umsatzträchtigen Ich-Zentriertheit, die uns aus den - danke, Felix Philipp Ingold, für die Auflistung - "Familiengeschichten, Kindheitsgeschichten, Vatergeschichten, Schwestergeschichten, Freundschaftsgeschichten, Liebesgeschichten, Ehegeschichten, Krankheitsgeschichten, Reisegeschichten" entgegensudert. Gegen diese Phalanx an Überwältigungsliteratur stemmten Kenneth Goldsmith, der schon erwähnte Gottseibeiuns aller Geschichtenerzähler, und sein nicht minder konzeptuell fuhrwerkender Kollege Craig Dworkin vor drei Jahren ihre Manifest-Anthologie Against Expressionism, in der sie AutorInnen und Positionen versammelten, die mit gängigen Recycling-Techniken aus Musik und bildender Kunst (Sampling, Remix, Mashup, Collage, Appropriation etc.) ans dichterische Werk gehen und so die alten Fragen nach Autorenschaft, Authentizität, Original und Kopie neu stellen. Oft auch in der Tradition der französischen "Werkstatt für potenzielle Literatur" ("Oulipo"), aus der so königliche Spinnereien stammen wie George Perecs Kriminalroman La Disparition - auf Deutsch: Anton Voyls Fortgang -, in dem kein einziges Mal der Buchstabe E vorkommt, auch nicht in der genialen deutschen Übersetzung von Eugen Helmlé.

Schöner noch als Against Expressionism: das lyrische Selbstabschaffer-Kollektiv "Poets Against Poetry". Am schönsten aber: "Uncreative Writing", Goldsmiths Schreiblehrgang an der University of Pennsylvania. Der britische Kulturtheoretiker und Goldsmith-Kritiker Simon Reynolds tippt sich darüber herrlich in Rage: "In Goldsmiths Seminar werden die Studenten bestraft, wenn sie auch nur ein Fitzelchen Originalität oder Kreativität hervorbringen. Belohnt werden sie für Plagiate, Identitätsdiebstahl, zweckentfremdete Arbeiten und Patchworking, das Ersinnen eines Textes, der nahezu ausschließlich aus Samples besteht." Man kann sich vorstellen, dass Mr. Goldsmith diese Kritik als Lob las und sie stolz seinen StudentInnen präsentierte: als weiteres Belegstück für das von ihm konstatierte "Dilemma der kulturellen Überproduktion".

Am allerschönsten aber: Nächstes Wochenende wird der kanadische Poesie-Konzeptualist Christian Bök im Wiener Literaturhaus sein Irrsinns-Projekt xenotext experiment vorstellen. Darin geht es darum, einem extrem resistenten Bakterium namens "Deinococcus radiodurans" die DNA-Sequenz eines Bök-Gedichts zu injizieren. Damit sich das Poem quasi autorenlos immer weiter fortpflanze und dank der Widerstandsfähigkeit des Bakteriums auch jede nukleare Katastrophe überdauere.

Der Tod des Autors im unsterblichen Gedicht: Wie geil paradox ist das denn! Nach der Apokalypse werden dann intelligente Kakerlaken Böks Verse deklamierend an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben. Und ihnen hoffentlich auch noch Geschichten erzählen, denn wenn auch die aussterben, dann ist der Ofen endgültig aus. (Fritz Ostermayer, Album, DER STANDARD, 20./21.9.2014)