Elvira Loibl: "Wohnungslose Frauen werden oft nicht in statistischen Erhebungen erfasst."

Foto: Lisa Breit

Elvira Loibl, Leiterin des Caritas-Frauenwohnzentrums "FrauenWohnZimmer" in der Wiener Springergasse, erklärt die Unsichtbarkeit wohnungsloser Frauen und kritisiert Niederösterreich und das Burgenland dafür, zu wenig Geld zur Verfügung zu stellen.

dieStandard.at: Die Medien vermitteln oft das Bild, Obdachlosigkeit habe ein männliches Gesicht - ist das so?

Loibl: Akute Obdachlosigkeit, also Menschen, die auf der Straße schlafen, betrifft meistens Männer. Wir reden mittlerweile von Wohnungslosigkeit, und die inkludiert Menschen, die in ganz prekären Situationen leben, irgendwo übernachten, kurzfristig bei Freundinnen und Freunden Unterschlupf finden - alles, wo kein Mietverhältnis besteht, das Sicherheit und Stabilität gibt.

dieStandard.at: Ist die Straße für Frauen noch immer gefährlich?

Loibl: Für Frauen ist der öffentliche Raum keiner, wo sie geschützt sind. Frauen übernachten nur in Ausnahmefällen in einem Park. Sie sind auf der Straße meist nicht sichtbar. Wir sprechen hier von sogenannter versteckter Wohnungslosigkeit. Das große Problem dabei ist: Es funktioniert eine Zeitlang, dass man bei Freundinnen oder Freunden schläft, aber generell sind das Konstellationen, die längerfristig zu Konflikten führen. Die Frauen haben meist keinen eigenen Schlüssel. Sie haben, wenn sie bei männlichen Bekannten übernachten, kaum Rückzugsmöglichkeiten, oder der Mann wird zudringlich, wenn er betrunken ist. Es geht nicht immer um Aggressionen oder Vergewaltigung: Psychische Belastungen, nicht mehr selbstbestimmt leben zu können oder in Abhängigkeit leben zu müssen und versteckte Wohnungslosigkeit sind Faktoren, die letztendlich dazu führen können, dass die Frauen psychisch erkranken.

dieStandard.at: Sie sprechen von versteckter Wohnungslosigkeit. Kann man dann sagen, wie viele Frauen in Österreich wohnungslos sind?

Loibl: Nein.

dieStandard.at: Sie scheinen in den Statistiken nur dann auf, wenn sie sich bei sozialen Einrichtungen melden?

Loibl: Genau. Was wir in den Statistiken sehen, ist die Zahl der Menschen, die sich an Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wenden. Auch an sozialen Brennpunkten werden oft Erhebungen durchgeführt. Aber wohnungslose Frauen meiden diese Orte häufig und werden somit nicht in statistischen Erhebungen erfasst.

dieStandard.at: Was sind die Geschichten der Frauen, die zu Ihnen kommen?

Loibl: Wir nehmen immer wieder Frauen mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie auf. Sie haben oft viele Jahre lang in einer eigenen Wohnung gelebt und wurden aufgrund ihrer psychischen Erkrankung delogiert. Klar ist: Wir kennen nicht alle Geschichten, und wir sind auch keine Therapeutinnen.

dieStandard.at: Gibt es dann therapeutische Angebote im Haus?

Loibl: Wir haben eine Psychiaterin, an die sich Bewohnerinnen wenden können, wenn sie Unterstützung brauchen. Aber wir sind eine Wohnungsloseneinrichtung und kein Therapiezentrum. Und das ist auch gut so, sonst würden die Frauen gar nicht herkommen. Wenn andere diagnostizieren, was für einen gut ist, wehrt man sich oft. Und genauso ist das auch bei Frauen, die psychisch krank sind. Sie schreien nicht immer: Hier, ich bin's, und ich will behandelt werden! Die Menschen, die bei uns Hilfe in Anspruch nehmen und die psychisch krank sind, sind oft diejenigen, die nicht ad hoc psychologische Hilfe annehmen. Und solange jemand nicht selbst- oder fremdgefährdend ist, ist es auch ihr Recht, das selbst zu entscheiden. Unser Angebot heißt Wohnen.

dieStandard.at: Welche Rolle spielen Gewalterfahrungen? Passiert es, dass Ex-Partner vor der Türe stehen und Krawall machen?

Loibl: Wir sind kein Frauenhaus, bei dem es darum geht, Frauen akut vor Gewalt zu schützen. Bei den Frauen, die wir aufnehmen, ist Gewalt oft ein Teil ihrer Biografie, aber der Grund der Wohnungslosigkeit ist meist ein anderer. Was bei uns vorkommt, ist, dass ein aktueller Beziehungspartner zur Klientin will, obwohl diese - beispielsweise nach einem Streit - keinen Kontakt haben möchte. Dann kann es auch vorkommen, dass diese Männer ungehalten sind.

dieStandard.at: Vorgesehen ist das Frauenwohnzentrum als vorübergehende Unterkunft. Was passiert nach zwei Jahren?

Loibl: Es gibt in der Wohnungslosenhilfe Notquartiere, Übergangseinrichtungen und sozial betreute Wohneinrichtungen. Letztere sind auf langfristiges Wohnen ausgerichtet. In Übergangseinrichtungen wie bei uns sollen Frauen auf dauerhafte Wohnformen vorbereitet werden. Das kann eine Gemeindewohnung, eine Hauptmietwohnung oder sozial betreutes Wohnen sein. Manche ziehen zu einem Freund oder einer Freundin, und einige wenige ziehen leider frühzeitig bei uns aus. Es gibt auch Frauen, die während ihres Aufenthaltes hier sterben. Hier wohnen Frauen zwischen 18 und 73 Jahren.

dieStandard.at: Das Durchschnittsalter wohnungsloser Frauen wird laut Statistik geringer. Ist das auch Ihr Eindruck?

Loibl: Ich kenne die Statistik nicht, aber das persönliche Erleben sagt Ja. Wir bemühen uns in diesem Haus um eine gute Mischung aus Alt und Jung, um nicht eine einzige Problemlage in den Vordergrund zu stellen. Bei 18-Jährigen ist es oft das Thema des Noch-nicht-erwachsen-geworden-Seins. Diese Frauen haben meist sehr viel erlebt - angefangen bei Prostitution bis zu Drogenmissbrauch -, aber gleichzeitig keinen Boden unter den Füßen. Sie haben nie genügend Unterstützung bekommen, um Vertrauen zu sich selbst aufbauen zu können. Eine 70-jährige Frau ist in einem ganz anderen Lebensabschnitt: Sie hat vielleicht ein erfolgreiches Leben gelebt und viele Erfahrungen gemacht, auf die sie zurückgreifen kann.

dieStandard.at: Gibt es Bedingungen, um hier wohnen zu dürfen - können etwa auch Asylwerberinnen einziehen?

Loibl: Nein. Wir werden zu einem großen Teil vom Fonds Soziales Wien finanziert, daher sind auch die FSW-Förderbestimmungen einzuhalten. Ob die Frau betreuungsbedürftig oder österreichische Staatsbürgerin ist beziehungsweise andernfalls bestimmte Voraussetzungen erfüllt, entscheidet, ob sie Anspruch auf unser Angebot hat. Das Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe teilt die Frauen den einzelnen Einrichtungen zu. Wir können zwar auch selbst Frauen aufnehmen, müssen uns dabei aber nach den vorgegebenen Bestimmungen richten. Auch Frauen aus anderen Bundesländern, zum Beispiel aus Niederösterreich, haben es schwer, in Wiener Einrichtungen wie unserer unterzukommen. Gleichzeitig ist klar, dass es Bundesländer gibt, die deutlich weniger für wohnungslose Menschen leisten. In Niederösterreich gibt es etwa kaum Obdachloseneinrichtungen. Dasselbe gilt für das Burgenland. Es ist letztendlich ein Kräftemessen zwischen den Bundesländern, das oft auf Kosten der Klientinnen geht. (Lisa Breit, dieStandard.at, 22.9.2014)