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Die Schrift, die Kuss werden will: Hier im Bild schrieb Ludwig van Beethoven am 6. Juli 1806 an seine "unsterbliche Geliebte".

Foto: Bettmann/CORBIS

"Du bist so nahe, als weiltest du nicht hier" - Diese Zeile aus einem Gedicht Paul Celans enthält bereits sämtliche Widersprüche des Liebesbriefs. Die sich und den Empfänger verzehrende Sehnsucht, die Überwindung der Ferne, die Umwandlung des ganz bestimmten und dabei in der Vorstellung buchstäblich einzigartigen Gegenübers. Aber auch die Wortgetriebenheit, die durch und durch eine erotische ist. Will und soll doch die Bewegung der schreibenden Hand in die Berührung der Haut, des Körpers übergehen. Das Schreiben eines Liebesbriefs will liebevolle Nähe und erlebte und durchlebte Intimität werden. Doch nicht selten wird das Begehren der Sprache im Angesicht des oder der Anderen später zum Gespenst einer Liebe, schlägt um in Enttäuschung, in neuerliche, gänzlich andere Distanz, die Intensität des Umschmeichelns auf Papier, neuerdings auf dem Laptop, Smartphone oder Tablet, verpufft. Weil etwas nun anders ist: Das Beschwören, das Sich- Hineinsteigern, der ekstatische Rausch ist in der räumlichen Anwesenheit absent.

Inspirierte Promenade

Die Schrift, die Kuss werden will, ist ein Phänomen, das bis heute ungebrochen ist. Dem Phänomen des Mediums Liebesbrief widmet nun Dieter Hildebrandt, Autor von Büchern über Friedrich Schiller und das Berliner Schloss, Beethovens neunte Sinfonie, Gotthold Ephraim Lessing, das Pianoforte und die Sonne, ein bestrickend kluges Buch. Es ist eine inspirierte Promenade in 23 Essays durch die Literatur- und Kulturgeschichte des Stammelsehnens auf Papier und zugleich des Postwesens, der Beförderung der Zuwendungs-, Sehnsuchts- und Verzückungsepisteln. Tausend Jahre schreitet er denkend, sinnierend und zitierend ab: von Ovid, Hero und Leander und die Minnesänger über Petrarca, Shakespeare und Luther, Rousseau, Goethe, Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode bis zu Gottfried Keller, Bismarck, Kafka und Karl Kraus.

Der gebürtige Berliner, der einen nach wie vor lesenswerten Roman über den Kurfürstendamm schrieb, lebt heute im Spessart, jener noch immer von der literarischen Romantik imprägnierten ländlichen Ecke Nordwestbayerns im Übergang zu Hessen. Diese Ferne und die schreiberische Abgeschiedenheit von metropolitaner Hektik und Auf- wie Umtriebigkeit tut dem Buch ausnehmend gut. Denn der 82-jährige Hildebrandt führt eine höchst elegante Feder, schreibt eine federnde, federleichte Prosa, für die scheinbar antiquierte Bezeichnungen vollgültig zutreffen: Anmut, Eleganz, Raffinesse, Esprit. Nur gelegentlich sorgt seine Tendenz, hie und da ein witziges Wortspiel erzwingen zu wollen, für schmerzlich sanftes Aufzucken. Dabei wird an ebenjenen Stellen, an denen Hildebrandt Germanisten und Philosophen anführt, überdeutlich, wie schön Deutsch noch immer sein und klingen kann, rückt man daneben bürokratisch tiefgekühlten, umständlichen Wissenschaftsjargon.

Bogen zum Minnesang

Merklich ist jene Zeit, die Hildebrandt am stärksten am Herzen liegt, jene zwischen 1760 und 1840, das Zeitalter der Aufklärung und des Klassizismus, der Wiener Klassik und der Romantik. Hier gelingen ihm auch die überzeugendsten Darstellungen, jene über den Leipziger Gellert etwa, über Lessing und Eva König, über Beethovens "unsterbliche Geliebte", die bis heute ein Mysterium geblieben ist, über Friedrich Schiller als Gefühlshasardeur zwischen den Schwestern Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld, über Robert Schumann und Clara Wieck. Man hätte sich andererseits auch ein Kapitel über den Liebesbriefschreiber Mark Twain erwarten können, oder etwa eines über Victoria Sackville-West. Ebenfalls ein Porträt des Briefstellers Arthur Schnitzler. Oder auch einen Essay über Kurt Tucholsky.

Hildebrandt selbst entschlägt sich mit der recht billigen Entschuldigung, jene Korrespondenz sei zu groß, zu intensiv, zu rahmensprengend, eines Kapitels über Ingeborg Bachmann und Paul Celan, deren gewechselte Liebesbriefe ja vor einigen Jahren erschienen und auf starke Beachtung stießen. Das 20. Jahrhundert ist hier lediglich punktuell vertreten mit Rosa Luxemburg, deren im Jahr 2012 publizierte Liebesbriefe sonderbarerweise für nur begrenztes Aufsehen sorgten, dabei hinreißend sind und eine ganz andere Seite der revolutionären Politikerin zeigen, mit Franz Kafka und dessen Liebesabwehrepisteln und mit Karl Kraus und Sidonie Nádherný von Borutin auf Schloss Janowitz. Bei Letzteren vermag Hildebrandt einen schönen Bogen zu schlagen zum Minnesang, mit dem er einsetzt, erliegt dabei allerdings der Tendenz, ausufernd zu zitieren. Bei Kraus verwundert aber, dass Hildebrandt die alte Briefausgabe aus dem Jahr 1974 verwendet und die von Friedrich Pfäfflin besorgte, weitaus bessere und auch umfangreichere Edition aus dem Jahr 2005 gänzlich ignoriert. Dabei enthält diese doch erstmals publizierte Briefe Nádhernys. Auch an anderen Stellen greift er auf ältere, teils veraltete Veröffentlichungen zurück. Zudem erstaunt es hie und da, dass das Korrektorat eines großen literarischen Verlags immer wieder Namen bekannter Autoren entzückend falsch zu schreiben versteht. (Alexander Kluy, DER STANDARD/ALBUM, 20.9.2014)