Der Kellner stellt seinen Gästen nicht im Zehnminutenrhythmus die beiden Killerfragen der Gastronomie: "Hat’s geschmeckt?" und "Passt alles?". Dafür will die Kellnerin beim Abendessen alle fünfzehn Minuten wissen, ob sie Wasser nachschenken darf. Das ist gewöhnungsbedürftig. Vor allem, wenn das Glas nicht halb leer, sondern halb voll und man selbst mitten im Tischgespräch ist. Ungewohnt auch der Sessel, der sich, sobald man nur die Lehne berührt, wie von Geisterhand in die Kniekehlen schiebt.

Die MS Europa 2 ist das Aushängeschild der Hapag-Lloyd-Flotte.
Foto: Hapag-Lloyd

Wir sind an Bord der MS Europa 2, dem knapp eineinhalb Jahre alten Aushängeschild der Hapag-Lloyd-Flotte, und hier herrschen eben andere Regeln als im wirklichen Leben. Der Gast hat ausschließlich eines zu tun: sich verwöhnen zu lassen. Mindestens 370 Crewmitglieder sind für das Wohlbefinden von höchstens 500 Passagieren zuständig. Im Ranking des Berlitz Cruise Guide von Herbst 2013 erreichte der Luxusliner mit 1.860 von maximal 2.000 möglichen Punkten so viele wie noch niemals ein Schiff zuvor. "5-Sterne-plus" lautet die Bewertung von Herausgeber Douglas Ward.

Die Küchencrew bei der Arbeit
Foto: Eva Tinsobin

Der gefürchtete Kritiker lobte den großzügig bemessenen Raum, die Helligkeit, die hochwertige kulinarische Auswahl und den Service an Bord. Und tatsächlich: Auf der MS Europa 2 haben die Passagiere so viel Platz wie auf keinem anderen Kreuzfahrtschiff. Die zwischen 28 und 99 Quadratmeter großen Kabinen heißen hier zurecht Suiten, sind tageslichtlichtdurchflutet und verfügen allesamt über Balkone.

Überarbeitung am Büffet

Wer sind die Urlauber, die ab 600 Euro pro Kopf und Tag eine vier- bis 20-tägige Seereise auf einer von 26 Routen antreten? Angehörige der Generation 45-plus, beruflich stark eingebunden, mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mindestens 5.000 Euro, definiert Hapag-Lloyd die Zielgruppe und geht wohl davon aus, dass diese überarbeitet ist und daher exzessiv bedient werden will. Was sich am vierten Tag der Kreuzfahrt "Europas Küste der Künste" von Hamburg nach Barcelona durch die Aussage einer Mitreisenden am Nebentisch prompt bestätigt: "Mir ist es schon zu viel, wenn ich mir den Kaffee am Frühstücksbuffet selbst holen muss", sagt sie.

Ein Gruß aus der Küche in der Suite
Foto: Eva Tinsobin

Auf die Vermeidung von Überforderungen solcher Art ist die Crew der MS Europa 2 spezialisiert. Die Wunscherfüllungsmaschinerie funktioniert mit höchster Diskretion und auch ohne verbale Kommunikation. So wissen die guten Geister immer, wann - und sei die Zeitspanne noch so kurz - der ihnen anvertraute Passagier gerade nicht in seiner Suite weilt, um ihn mit Fingerfood oder frischen Trüffeln zu überraschen. Ebenso wird auf Vorlieben oder Allergien prompt und für den restlichen Verlauf der Reise konsequent reagiert.

Sieben Restaurants

Lässt man sich auf das Verwöhntwerden ein, eröffnen sich Freiräume. Aber was tun mit der Zeit? Das, was gemeinhin als Erholung gilt: aufs Meer schauen, lesen Shuffleboard an Deck spielen, im knapp 1.000 Quadratmeter großen Wellnessbereich plantschen oder sich als Dame im "Herrenzimmer" durch das größte Gin-Sortiment auf See trinken, bevor man in einem der sieben Restaurants diniert.

Im "Herrenzimmer" kann auch die Dame aus dem größten Gin-Sortiment auf See wählen.
Foto: Eva Tinsobin

Das äußere Erscheinungsbild spielt dabei keine tragende Rolle, Understatement ist gefragt, denn die Passagiere des schwimmenden 5-Sterne-plus-Luxus-Hotels haben es nicht nötig, ihren Reichtum zur Schau zu stellen. "Sportlich-elegant" lautet die offizielle Bekleidungsempfehlung. Und da auf der MS Europa 2 feste Essenszeiten und klassische Kreuzfahrtrituale abgeschafft wurden - es gibt kein "Captain’s Dinner" und auch keine festliche Abschiedsgala - kann rund um die Uhr getafelt werden.

Was angesichts folgender Zahlen offensichtlich beherzigt wird: "400 Kilogramm Fleisch und Wurst brauchen wir täglich für 350 Passagiere", sagt Johann Schrempf, als Hotelmanager verantwortlich für Küche, Service, Housekeeping und Rezeption. Dazu kommen 150 Kilogramm Fisch, 85 Kilogramm Krustentiere, 1.400 Eier, 200 Kilogramm Mehl, 70 Kilogramm Reis und 69 Kilogramm Käse.

Großes Reich im Bauch

Schrempf führt in den Schiffsbauch, wo 1.600 unterschiedliche Lebensmittel, 1.800 verschiedene Getränke und 5.000 Uniformen für die Crew in allen Größen lagern. Es ist das Reich von Food-and-Beverage-Manager Lutz Grelfrath. "Die Fläche der Lagerräume", sagt er, "entspricht der eines Handballfeldes", das sind 800 Quadratmeter. In drei Tiefkühlkammern und neun Kühlräumen mit Temperaturen von minus 25 bis plus acht Grad Celsius werden die Speisen und Getränke adäquat gekühlt, darunter rund eintausend Positionen Spirituosen.

Knapp 20.000 Flaschen Champagner lagern an Bord.
Foto: Eva Tinsobin

800 Flaschen Weißwein und 540 Flaschen Rotwein trinken 350 Passagiere pro Woche. "Für eine Siebentagesfahrt benötigen wir zudem 400 bis 500 Flaschen Champagner", sagt Grelfrath und muss sich keine Sorgen machen, dass er ausgehen könnte: Knapp 20.000 Flaschen lagern an Bord.

Ein Kilogramm kostet rund 2.000 Euro

Der wahre Schatz des Schiffes ist klein und schwarz. Eine etwa acht Quadratmeter große, Null Grad Celsius kühle Kammer birgt die besten Kaviarsorten der Welt. "Vom Warenwert ist dieser Raum ein Tresor", sagt Grelfrath. Ein Kilogramm kostet durchschnittlich 2.000 Euro, mehr als hundert Kilogramm lagern hier - weshalb die Kammer auch mit einem autonomen Schließsystem ausgestattet ist. Insgesamt verfügen die Produkte, die den exklusiven Lebensstil an Bord garantieren, über einen Warenwert von rund einer Million Euro.

Hotelmanager Johann Schrempf im Kavierkühlhaus
Foto: Eva Tinsobin

Einkäufe werden akribisch geplant, Bestellungen drei bis vier Wochen, bei Fernreisen sogar bis zu vier Monate im Voraus getätigt. Pro Lieferung sind es zwischen 110 und 140 Tonnen, vieles davon wandert in die Küche. Sechs der sieben Restaurants des Luxusliners sind in eine große Hauptküche auf Deck 3 integriert. Hier koordiniert Küchenchef Willy Leitgeb gemeinsam mit seinem Souschef Daniel Heil 69 Köche, Patissiers, Küchenhilfen sowie Mitarbeiter im Hygienebereich.

Kurz vor der Lisabon
Foto: Eva Tinsobin

Augenmaß ist das Um und Auf: "Wir müssen schauen, dass nichts ausgeht, aber wir dürfen auch nicht zu viel an Bord haben. Eine Tomate bekomme ich überall, aber bei speziellen Sachen wird es schon schwieriger", sagt der Küchenchef. Für spontane Einkäufe hat er ein Extra-Budget, denn Leitgeb weiß immer, "wo ein Markt ist, auf dem wir Frischfisch oder besonders exotische Früchte kriegen."

Kurzes Gastspiel an Land

Als die MS Europa 2 am siebenten Tag ihrer Fahrt in Lissabon anlegt, verlassen nur wenige Passagiere das Schiff. Einige sitzen mit einem Glas Champagner in der Hand auf ihren Balkonen und warten auf den organisierten Landgang am nächsten Morgen. Erst spätabends nach dem Dinner eilt ein Grüppchen durch die Gänge. Manche Gesichter scheinen bekannt: Es handelt sich um Mitglieder der Service- und Küchencrew. In Zivil stürzen sie sich ins Nachtleben der portugiesischen Hauptstadt. Für wenige Stunden werden aus Dienstleistern Gäste, die sich in den Bars der Stadt verwöhnen lassen. (Eva Tinsobin, DER STANDARD, 27.9.2014)

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