Kathi Diamant, "Dora Diamant - Kafkas letzte Liebe". Mit einem Vorwort von Reiner Stach und Auszügen aus D. Diamants Aufzeichnungen. € 19,80 / 450 S., Onomato-Verlag, Düsseldorf 2014

Foto: Onomato-Verlag

Im Jahr 1911 notierte der ewige Junggeselle Franz Kafka mit grimmigem Humor: "Sollte ich das 40. Lebensjahr erreichen, so werde ich wahrscheinlich ein altes Mädchen mit vorstehenden, etwas von der Oberlippe entblößten Oberzähnen heiraten." Als er 1923 in Müritz an der Ostsee Dora Diamant begegnete, der Frau, die ihn zumindest für kurze Zeit die "Herrlichkeit des Lebens" entdecken ließ, war er tatsächlich bereits vierzig - und die damals 25-Jährige, die als Kindergärtnerin für das Berliner Jüdische Volksheim arbeitete, ein, wie man damals sagte, "spätes Mädchen".

Dora Diamant las Kafkas Voraussage erst 1951, nach der Veröffentlichung seiner Tagebücher. Der Prager Schriftsteller war da schon über ein Vierteljahrhundert tot, und sie selbst lag unheilbar erkrankt in einem Londoner Hospital. Feierlich kommentierte sie Franz Kafkas Eintrag in ihren Aufzeichnungen mit den Worten: "Ich habe eine kurze Oberlippe, die ein wenig die oberen Zähne sehen lässt."

Dass Dora Diamant in ihren letzten Jahren begann, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, war nicht zuletzt ein Protest gegen die frühe Kafka-Forschung und deren Zerrbild vom neurotischen, sexuell anormalen Dichter: Ihr Franz war "sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie ein Kind). Woher bloß die Vermutung von Franz als Asket herkommt!?" Nicht die Symptome von Kafkas Lungentuberkulose hatten für Dora ihr Zusammenleben in Berlin Ende 1923 / Anfang 1924 geprägt, sondern seine Heiterkeit, Spielfreude und Lebenslust: "Wie hätte ein Mensch, der so intensiv lebte, der sich mit solcher Hingabe dem alltäglichen Tun widmete, das Leben hassen können?"

Franz ein Asket?

Doch zeugen Doras Aufzeichnungen auch von ihrer ans Religiöse grenzenden Verehrung Kafkas ("ich räume Franz nicht weniger Raum ein als Christus" ). Erst im Jahr 2000 tauchten Doras fragmentarische Notate wieder auf, im Nachlass der Kafka-Biografin Marthe Roberts. Dem deutschsprachigen Publikum werden sie nun im Anhang der Dora-Diamant-Biografie ihrer kalifornischen Namensvetterin Kathi Diamant zugänglich gemacht.

Mit zehnjähriger Verspätung allerdings, erschien die Biografie in den USA doch bereits im Jahr 2003. Der auf anspruchsvolle Hörbucheditionen spezialisierte Düsseldorfer Onomato-Verlag stemmte die Übersetzung mithilfe eines Crowdfunding-Projekts; der Literaturwissenschafter Rainer Stach steuerte noch ein Vorwort bei. Was insofern passt, als auch Kathi Diamant, wie Stach in seiner demnächst komplettierten Kafka-Biografie, stark auf Empathie setzt: Passagen wie Dora "vermisste Kafka, sehnte sich danach, seine Stimme zu hören und auf seinem Schoß zu sitzen, zusammen eingewickelt in seinen Morgenrock, der sie beide wärmte" würde man wohl eher in einem kitschverdächtigen Roman vermuten.

Doch kann sich die Biografin hier wie auch in anderen Fällen auf Doras Aufzeichnungen berufen und schafft alles in allem ein überzeugendes, lebendiges Porträt jener leidenschaftlichen, intelligenten Frau, die Kafka zum glücklichsten Jahr seines Lebens verhalf. Vor Kathi Diamants jahrzehntelangen Recherchen wusste man nur wenig über Kafkas "letzte Liebe" und auch nichts über ihr abenteuerliches Leben nach dem Tod des Dichters 1924. Unbekannt war etwa, dass Dora Diamant, die später Kommunistin wurde und sich für jiddische Dichtung engagierte, zwar den Lagern Hitlers und Stalins entkam, nicht aber denen Englands: 1940 wurde sie zusammen mit anderen Emigranten aus Deutschland als "feindliche Ausländerin" auf der Isle of Man interniert.

Bedingungslose Hingabe

1898 geboren, wuchs Dora Diamant (auch: Dymant oder Diament) im polnischen Bedzin in einer vom jüdischen Chassidismus geprägten Welt auf, in der die Regel galt: "Alles Neue verbietet die Thora."

Begeistert vom Zionismus, floh sie mit 21 Jahren vor dem strenggläubigen Vater nach Berlin. Kafkas Konflikt zwischen Elternhaus und Selbstbestimmung kannte Dora daher nur zu gut, für seine eigene Suche nach einer Koexistenz zwischen traditionell-jüdischer und westlich-moderner Lebensweise wurde sie zur "Komplizin" (Stach). Keine zwei Wochen kannten sie sich, und Kafkas Beschluss, trotz seiner Erkrankung zu Dora nach Berlin zu kommen, stand fest - um dort dann wie erlöst zu leben und zu schreiben.

"Der Dora kennt, nur der kann wissen, was Liebe heißt", schrieb Robert Klopstock, der gemeinsam mit ihr seinen Freund im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg bis zu seinem Tod pflegte. Ihre bedingungslose Hingabe sollte auch Kafkas Eltern beeindrucken und deren Vorbehalte gegen die ostjüdische Freundin ihres Sohnes überwinden. "Dora entscheidet", telegrafierte der sonst so tyrannische Vater Hermann Kafka lapidar, als es darum ging, wie mit dem Leichnam seines Sohnes verfahren werden sollte. (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 27./28.9.2014)