Historiker Wolfgang Benz über Vorurteile: "Der Hass oder die Abneigung, die Ausgrenzung von Minderheiten hat eine Funktion: Es geht uns besser."

Foto: Standard/Urban

STANDARD: Österreich und Deutschland planen gesetzliche Maßnahmen gegen radikalen Islamismus. Ist das ein richtiger Schritt?

Benz: Das schürt die Feindbilder. Wobei es gar keinen Zweifel daran geben kann, dass man Extremisten das Handwerk legen muss. Kriminelle Handlungen können nicht hingenommen werden. Ich glaube aber nicht, dass man dazu die Gesetze verschärfen muss.

STANDARD: Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich befürchtet eine "Lex Islam".

Benz: Offizielle Vertreter haben Angst davor, dass die Mehrheitsbevölkerung sämtliche Muslime pauschal in Verdacht nimmt. Ausnahmegesetze sind gefährlich, weil sie Unschuldige zu Feinden definieren. Es müsste mit dem normalen Strafrecht gehen.

STANDARD: Können solche Tendenzen auch demokratiegefährdend sein?

Benz: Ja, wenn ganze Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden, hat man den Boden der Allgemeingültigkeit und der Toleranz überschritten. Gleiches Recht gilt nicht mehr für alle. Wer jemandem deshalb misstraut, weil er Muslim oder Jude ist, verlässt den Boden der Demokratie.

STANDARD: In Österreich wird gleichzeitig über eine Ausstiegsstelle für Jihadisten diskutiert. Ist das sinnvoll?

Benz: Das ist unbedingt notwendig, auch für Eltern, die Rat und Hilfe suchen. Sanktionen sind leider notwendig, aber sie müssen von Hilfen begleitet werden. Einen 21-Jährigen, der sich verführen hat lassen und in Syrien gekämpft hat, den kann man doch nicht alleine lassen.

STANDARD: Sie haben die heutige Islamfeindlichkeit mit der Judenfeindlichkeit verglichen ...

Benz: Nein, das wird mir unterstellt. Ich habe die Methoden der Ausgrenzung verglichen. Es sind dieselben, mit denen man einst Juden ausgegrenzt hat: Jetzt stigmatisiert man Muslime über ihre Religion. Ich bin weder Judaist noch Orientalist. Als Historiker und Sozialwissenschafter beschäftige ich mich mit den Mechanismen der Ausgrenzung und frage: Warum haben wir als Mehrheit es nötig, auszugrenzen? Und mit welchen Methoden grenzen wir aus?

STANDARD: Also: Welche Methoden sind das?

Benz: Ab dem 18. Jahrhundert war es eine beliebte Methode, Juden auszugrenzen, indem irgendwelche "Experten" sagten, im Talmud stünden furchtbare Sachen. Diese religiöse Judenfeindschaft wurde dann abgelöst durch die rassistische. Da waren es die Gene, welche die Juden vermeintlich zum Bösen geführt haben. Heute gibt es einen Experten, der in Büchern behauptet: Ein Christ, der Gewalt ausübt, macht sich vor seiner Religion strafbar, ein Muslim aber, der keine Gewalt ausübt, macht sich in seiner Religion strafbar. Dabei beruft er sich auf den Koran. Was früher Talmud-Hetze war, ist jetzt Koran-Hetze. Man stigmatisiert eine Minderheit als gefährlich, weil es ihr angeblich die Religion befiehlt.

STANDARD: Durch den Gaza-Konflikt ist in Europa der Judenhass wieder stärker zutage getreten. Ist der nie weg oder handelt es sich um eine neue Form?

Benz: Judenfeindlichkeit gab es seit dem Holocaust immer. Es war eine naive Idee, anzunehmen, dass nach dem Völkermord alle plötzlich Juden mögen würden. Aber der Antisemitismus ist seither kontrolliert - als Bodensatz ist er in unserer Gesellschaft natürlich vorhanden. Durch den Gaza-Krieg hat sich eigentlich gar nichts verändert. Es gibt keine Pogromstimmung, wie jüdische Funktionäre meinen. Aber die Stimmung gegenüber Israel ist eingebrochen. Sie verschlechtert sich, weil viele Menschen in Europa nicht unberührt durch den Anblick der Leiden der Palästinenser bleiben.

STANDARD: Man hat aber nicht den Eindruck, dass immer zwischen zulässiger Israel-Kritik und antisemitischen Aussagen unterschieden wird.

Benz: Man muss das trennen, auch wenn sehr viele Leute ein großes Interesse daran haben, dass jede Kritik an Israel auch schon Antisemitismus sei. Aber in einer sauberen Argumentation muss es ja auch einem Bürger gestattet sein, zu sagen: Ich missbillige diese Politik des Staates Israel gegenüber seiner Nachbarn, aber ich verteidige gleichzeitig das Existenzrecht Israels und verurteile jede Form von Antisemitismus.

STANDARD: Das heißt, es gibt gar keinen neuen Antisemitismus?

Benz: Es gibt keinen neuen Antisemitismus. Es ist immer der alte.

STANDARD: Aber ist es nicht verständlich, dass seitens der Juden sensibel reagiert wird?

Benz: Das ist sehr verständlich. Ich spreche auch niemandem seine Gefühle ab. Es ist eine außerordentlich unschöne Sache, wenn in einer Demonstration antisemitische Parolen gegrölt werden. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass fast alle Deutschen jetzt pausenlos diese Parolen grölen. Dieser Eindruck wird erweckt, wenn man von einer explosionsartigen Zunahme des Antisemitismus spricht. Das ist total kontraproduktiv: Wer zu viel und zu lange die Alarmglocke schlägt, wird nicht mehr ernst genommen, wenn es wirklich ernst sein sollte.

STANDARD: Fakt ist: Es gibt eine konstante Zahl an Antisemiten in der Bevölkerung. Wieso hält sich das?

Benz: Weil der Mensch nicht so gut ist, wie er sein sollte. Weil der Mensch nicht so lernfähig ist, wie er sein könnte, weil der Mensch auch aus der Geschichte nichts lernen will. Ich halte das nicht für außerordentlich bestürzend, dass wir einen Bodensatz von Leuten mit Ressentiments gegenüber einer bestimmten Minderheit haben. Es gibt ja solche Ressentiments gegen andere Minderheiten in sehr viel höherem Ausmaß: Gegenüber Sinti und Roma ist der Anteil höher.

STANDARD: Gibt es dazu Zahlen?

Benz: Laut einer aktuellen Umfrage sagen 50 Prozent der Deutschen, dass sie nichts mit Roma zu tun haben wollen. Dabei kennt man sie nicht. Es ist genauso wie der Antisemitismus ohne Juden. Diese Studie hat vor allem eines gezeigt: grenzenloses Desinteresse an Sinti und Roma. Es interessiert einfach nicht.

STANDARD: Wandeln sich Vorurteile?

Benz: Ich kann es nur für die Juden sagen: Da ändern sie sich über die Jahrzehnte praktisch nicht. Das wissen wir, weil in Deutschland seit 1945 stetig und regelmäßig Meinungsumfragen zu diesem Thema gemacht werden. Bei ungefähr 20 Prozent der deutschen Bevölkerung gibt es Ressentiments gegen Juden in ihrem Weltbild. Aber was bedeutet das? Das sind nicht zwanzig Prozent, die die Juden vertreiben wollen, sondern es sind Menschen, die auf einen komplizierten Fragenkatalog Antworten gegeben haben. Zum Beispiel: Möchten Sie, dass Ihr Sohn eine Jüdin heiratet? Da Sie streng evangelisch sind, möchten Sie weder, dass er eine Jüdin, noch dass er eine Katholikin heiratet. Oder: Glauben Sie, dass die Juden zu viel Einfluss in der Kultur haben? Da sagt ein großer Teil einfach Ja, weil er denkt, die Frage wurde nicht umsonst gestellt. Mit dieser Vorsicht muss man auch dieses Ergebnis betrachten, aber es zeigt, dass bei 20 Prozent Juden nicht als gleiche Mitbürger wahrgenommen werden.

STANDARD: Gibt es einen Bruch, weil ja die Generation jener, die den Krieg miterlebt haben, stirbt?

Benz: Nein. Der Jude, gegen den man Ressentiments hat, den kennt man ja nicht. Juden sind eine hoch abstrakte Bevölkerungsgruppe. Kaum jemand in Deutschland und in Österreich hat ja regelmäßigen Kontakt zu Juden. Und die Botschaft des Holocaust-Überlebenden ist auch jene: Ich habe Auschwitz überlebt, ich erkläre euch Auschwitz. Der wird in aller Regel mit größter Empathie wahrgenommen - aber nicht als Jude.

STANDARD: Gerade das Zeitzeugengespräch wird immer als besonders wertvoll für die Aufarbeitung empfunden?

Benz: Bei einem Zeitzeugengespräch lernen junge Menschen etwas über das Verfolgungs- und Terrorinstrumentarium, aber nichts über Vorurteile. Der Zeitzeuge schafft Verständnis für das Leid der Verfolgten.

STANDARD: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, gegen Vorurteile anzukämpfen?

Benz: Das versuchen wir ständig und pausenlos. Studien zeigen, dass 20 Prozent offenkundig Vorbehalte haben. Gäbe es keine Aufklärung, wäre die Zahl sehr viel größer. Prävention kann nur Schlimmeres und ein Anwachsen verhindern, sie kann aber nicht das Vorurteil beseitigen. Es wächst leider nach.

STANDARD: Kann eine Gesellschaft ohne Vorurteile funktionieren?

Benz: Ich kenne keine. Wahrscheinlich braucht sie es, weil es die eigene Identität stärkt. Der Hass oder die Abneigung, die Ausgrenzung von Minderheiten hat eine Funktion: Es geht uns besser. Denn es gibt Schlechte, auf die das Böse abdelegiert ist. Die Verständigung untereinander auf Kosten Dritter beginnt in der frühen Kindheit, im Kindergarten und in der Schule. Die Deutschen haben lange einen Teil ihres Selbstbewusstseins daraus bezogen, dass die Franzosen die Erbfeinde sind.

STANDARD: Das scheint aber überwunden.

Benz: Das ist auch das einzige Beispiel, das ich kenne, wo Vorurteile obsolet wurden. Vielleicht war das leichter auflösbar, weil Religion keine Rolle spielte. (Peter Mayr, Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 2.10.2014)