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Protest gegen den spanischen Klimakommissar Miguel Arias Canete.

Foto: AP/Wijngaert

In den kommenden zwei, drei Tagen geht es für die EU-Kommission von Jean-Claude Juncker um die Wurst. Bei den Anhörungen durch die zuständigen Fachausschüsse sind bisher nicht weniger als fünf von 21 Kandidaten, die sich vergangene Woche präsentiert haben, im ersten Anlauf durchgefallen. Sie erhalten nun im schriftlichen Verfahren eine zweite Chance. Sie müssen den EU-Abgeordneten Fragen beantworten, bei denen sie zufriedenstellende Erklärungen bisher schuldig geblieben sind. Der Brite Lord Hill sollte auch noch mündlich befragt werden.

Eine solche "Nachprüfung" kann für einzelne tragisch sein, muss aber nicht im Scheitern enden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kommissarskandidat über diesen Umweg ins Amt kommt. Anfang 2010 ist das der jetzigen Digital-Verantwortlichen Neelie Kroes passiert, obwohl sie viel Erfahrung hatte. Sie war davor als Wettbewerbskommissarin eine der mächtigsten Personen in der Zentralbehörde gewesen. Weil sie die EU-Abgeordneten beim Thema Roaming-Gebühren ziemlich arrogant und abschätzig behandelte, schickte sie der Ausschuss kurzerhand in eine Extrarunde.

Ein anderes Beispiel von 2010 ist die Bulgarin Rumiana Jeleva: Sie war als Entwicklungskommissarin vorgesehen, trat als Außenministerin ihres Landes an, immerhin. Im Parlamentsausschuss wurde sie wegen früherer Geschäftsbeziehungen und denen ihres Mannes derart "gegrillt", dass sie die Nerven verlor und ihre Kandidatur zurückzog. So ähnlich war es auch beim Italiener Rocco Buttiglione 2004 gelaufen, einem früheren konservativen Europaminister. Diesen ließ der Ausschuss bei der Anhörung über die Klinge springen, weil er Beziehungen von Homosexuellen als "Sünde" und inakzeptabel bezeichnete. Auch er, der gläubige Katholik, zog seine Kandidatur als Justiz/Innen-Kommissar zurück.

Im aktuellen Fall der Juncker-Kommission unterscheidet sich die Lage aber doch beträchtlich von allen bisherigen Hearings, die es seit 1994 gibt: Sie ist relativ dramatisch: Wenn jeder vierte Kandidat vom Fleck weg das Misstrauen der EU-Abgeordneten in den ihm zugeordneten Fachausschüssen hat, dann kann man das nicht als kleinere "Unfälle" sehen. Es dürfte auch nicht nur an der persönlichen Qualifikation der einzelnen Wackelkandidaten liegen, die in ihrem Vorleben durch die Bank wichtige Regierungsfunktionen in ihren Ländern ausgeübt haben. Dann geht das Problem viel tiefer.

Dann stimmt entweder etwas im Verständnis der Grundkonstruktion nicht. Oder es gibt ein massives politisches Problem bei den Fraktionen, die der Kommission eine Mehrheit im Plenum verschaffen sollen. Beides trifft beim Juncker-Team, so wie es ins Rennen gegangen war, zu.

Um das zu verstehen, muss man zusätzlich im Auge behalten, dass bis Dienstag auch noch sieben Vizepräsidenten der Kommission angehört werden. Vier davon sind ehemalige Regierungschefs, also hochrangig, bis vor kurzem noch in der Runde der Staats- und Regierungschefs bei den EU-Gipfeln. Zwei von diesen sind aber dennoch absturzgefährdet: die liberale Slowenin Alenka Bratusek (sie soll den gesamten Energiebereich führend verantworten), die sich selber nominiert hat. Die neue Mitte-Links-Regierung in Laibach würde sie gerne fallen sehen, so wie eine Front von links-grün bis zu den rechten EU-Skeptikern, die meist aus Prinzip dagegen stimmen. Und dann der christdemokratische Finne Jyrki Katainen, der für Wachstum und Beschäftigung sorgen soll, was ebenfalls der links-grünen Seite im Parlament suspekt erscheint.

Die Vizepräsidenten, so wie der Christdemokrat Juncker sie jetzt erstmals schuf, sind nicht für einzelne kleinen Dossiers verantwortlich, so wie man das bisher kannte. Sie führen ganze "Cluster" – Gruppen – von mehreren Einzelkommissaren. Sie verantworten die vier wichtigsten politischen Prioritäten, die Arbeitsschwerpunkte der "EU-Regierung": erstens Euro- und Sozialunion; zweitens Energieunion; drittens Jobs, Wachstum, Investment; und schließlich viertens die Digital-Union. Außenkommissarin Federica Mogherini, "Personal- und Budgetchefin" Kristalina Georgieva oder Frans Timmermans als direkter erster Stellvertreter von Juncker sind wieder eine andere Kategorie.

Kein einzelner "Fachkommissar", wie zum Beispiel der jetzt als Währungskommissar umstrittene Franzose und Sozialist Pierre Moscovici, oder der als Energie- und Klimaschutzkommissar angezweifelte konservative Spanier Miguel Arias Canete, kann über den Kopf "seines" Vizepräsidenten hinweg eine Entscheidung in der Kommission durchsetzen. Nichts kommt auf die Agenda des Kollegiums, wenn es nicht vorher mit dem jeweiligen Vizepräsidenten abgestimmt und von diesem zusätzlich mit den anderen involvierten Fachbereichen koordiniert worden ist. Der Wirtschafts- und Währungskommissar kann etwa keine Maßnahme gegenüber den Eurostaaten anordnen, wenn nicht abgecheckt wurde, wie sie sich in Bezug auf Beschäftigung oder Wachstum und Infrastrukturinvestitionen verhält.

Juncker hat nun zusätzlich versucht, "seine" Kommissare so zusammenzustellen, dass sie nur als kleine Teams funktionieren können, in denen länder- und parteipolitische Gegensätze wechselseitig aufgehoben werden. Er baut darauf, dass damit ausschließlich die gesamteuropäische Gesinnung zählt, die ideologischen und einzelstaatlichen Einflüsse möglichst in Schach gehalten werden, weil kein einziger Kommissar über alleinige Durchsetzungsmacht verfügen würde – außer ihm selbst als vom EU-Parlament einzeln gewählter Präsident, der qua Funktion alles darf.

Herausragendes Beispiel: Ausgerechnet der französische Sozialist Moscovici, der als Ex-Finanzminister in seinem Land exzessive Defizite zu verantworten hatte, soll nun Euro-Hüter werden, der seinen Landsleuten bei Reformen Beine macht. Er hat aber den christdemokratischen Letten Valdis Dombrovskis als Vorgesetzten, der für harte Spar- und Stabilitätspolitik steht.

Es ist also eine relativ komplexe und anspruchsvolle Konstruktion, die Juncker da gewählt hat. Sie ist in den EU-Verträgen so auch nicht vorgesehen, wo es nur gleichrangige Kommissare mit Sitz und Stimme gibt. Aber dem Präsidenten steht es per Geschäftsordnung auch zu, sein "Regierungsteam" so zu gestalten, wie er will.

In der ersten Runde der Anhörungen spielte die Hinterfragung dieser Konstruktion kaum eine Rolle. Die Ausschüsse sind noch nach den "alten" Ressortzuständigkeiten zugeschnitten. Und das dürfte – neben persönlichen Schwächen – auch mit ein Grund gewesen sein, warum gleich fünf Kandidaten in eine solche Schieflage gerieten.

Am wenigsten gilt das noch für die tschechische Regionalministerin Vera Jourova, die Kommissarin für Justiz, Gleichberechtigung und Konsumentenschutz werden soll: Über alle Parteilager hinweg wurde ihr attestiert, dass sie fachliche Mängel gezeigt habe.

Bei den anderen vier Kandidaten waren es vor allem politische Gründe, die sie in die Defensive brachten. Begonnen hat es Mittwochabend damit, dass der erzkonservative Spanier Canete, seit zwei Jahrzehnten im EU-Parlament oder in der Regierung in Madrid tätig, von Linken, Grünen, EU-Skeptikern hart angegangen wurde. Einerseits warf man ihm finanzielle Unvereinbarkeiten vor, weil er Anteile an Ölspeichergesellschaften an einen Schwager verkauft hatte und seine Frau und sein Sohn dort bis vor kurzem Leitungsfunktionen hatten. Andererseits schossen sich die Grünen vor allem auf seine Rolle als ehemaliger Umweltminister ein. Canete, der aus einer sehr reichen Familie kommt, wies alle Vorwürfe scharf zurück. Er gilt als "Steher", der sich nicht einschüchtern lässt. Die Sozialdemokraten schlossen sich den Vorbehalten gegen Canete an, weshalb er im Ausschuss keine Mehrheit fand. Nun soll zunächst erstmals der Rechtsausschuss entscheiden, ob formal bei den finanziellen Interessen bzw. Unvereinbarkeiten alles in Ordnung ist.

Damit war tags darauf eine Gegenattacke der Mehrheitsfraktion der Volkspartei (EVP), aber auch der Liberalen und EU-Skeptiker, gegen den Sozialisten Moscovici quasi vorprogrammiert. Die Sozialisten machten dem Franzosen die Mauer, aber er bekam am Ende keine Mehrheit: "Mangelnde Glaubwürdigkeit", wurde Moscovici vorgehalten, der sich fachlich als einer der Besten präsentierte.

Beim britischen Konservativen Jonathan Hill, der als Finanzmarktkommissar kandidiert, war es eine Mischung aus Skepsis gegenüber seiner fachlichen Eignung und politischer Gründe, die zu einer ersten Ablehnung führten.

Und beim ungarischen Ex-Justiz- und Ex-Außenminister Tibor Navracsics waren es wiederum fast nur politische Gründe, die ihn in die Warteschleife zwangen. Der Fidesz-Mann und Vertraute von Premierminister Viktor Orbán gilt als fachlich sehr versiert, er hatte aber just jene Mediengesetze unter anderem gemacht, die 2011 ein Verfahren wegen Grundrechtsverstößen durch die Kommission ausgelöst hatten. Christdemokrat Navracsics hielt dem entgegen, dass er es gewesen sei, der eine Lösung im Streit Kommission gegen Orbán herbeigeführt habe, er sei ein tief überzeugter Europäer. Der Ungar gilt inzwischen eher als Nebenschauplatz. Denn Juncker hat ihm praktisch alle wichtigen Kompetenzen, die ein Kulturkommissar früher hatte, entzogen, etwa die Erasmusprogramme. Ließe man Navracsics durchfallen, würde Orbán einen noch schlimmeren Ersatzkandidaten schicken, befürchten manche Parlamentarier.

Dennoch: In der Kombination aller Faktoren und Personen ist für die künftige EU-Kommission eine gefährliche Lage entstanden. Die Sache ist den Fraktionschefs von EVP und S&D, Manfred Weber und Gianni Pittella, beide neu im Amt, sowie dem Präsidium des Parlaments am Mittwoch entglitten, wie es hieß. Da die rechtspopulistischen EU-Skeptiker und auch die radikale Linke bei den Europawahlen im Mai deutlich gestärkt wurden, sind Mehrheitsfindungen der Mitteparteien, der großen Koalition von EVP und S&D, noch schwieriger geworden. Die Grünen sind zwar medial sehr präsent, realpolitisch als nur sechststärkste Fraktion aber ebenso geschwächt wir die Liberalen, die ein Drittel ihrer Stimmen verloren haben.

Am Dienstag wird es einen Krisengipfel der Fraktionschefs mit den Präsidenten Martin Schulz und Juncker geben. Vor dem Wochenende wurden in Brüssel drei Szenarien gehandelt, wie es nun weitergehen könnte.

Erstens: Die EU-Abgeordneten und die Fachausschüsse lassen sich von den Parteichefs nicht an die Kandare nehmen, mehrere Kommissarskandidaten werden fallen. Wird beispielsweise der Christdemokrat Canete mit Hilfe der Sozialdemokraten verhindert, hat der Sozialist Moscovici keine Chance. Er würde im Gegenzug von der EVP und den Liberalen ebenfalls abgelehnt. Wie viele Kandidaten daneben noch ins Straucheln kämen, hängt davon ab, wie sie bei der zweiten Runde abschneiden bzw. ob es weitere "Racheakte" gibt. Die Liberale Bratusek wäre schwer gefährdet. Bei einem solchen Szenario ist ausgeschlossen, dass die neue Kommission, wie geplant, am 1. November beginnt. Die Regierungen müssten Juncker neue Kandidaten nominieren, er sie dann einbauen.

Szenario zwei: Die Führungen der drei Fraktionen von EVP, S & D sowie die Liberalen einigen sich darauf, dass der Aufstand der Ausschüsse einfach gestoppt wird, man am Ende doch das gesamte Team von Juncker akzeptiert, wenn erst einmal klar ist, wie das Funktionieren mit den Vizepräsidenten gewährleistet ist. Dass dieser Fall eintritt, wird als wenig wahrscheinlich angenommen. Die Fachausschüsse stünden zahnlos da.

Am wahrscheinlichsten ist das dritte Szenario: Man schließt zuerst das gesamte Anhörungsverfahren ab, bevor über einzelne Personen geurteilt wird. Die Ausschüsse geben ihre Empfehlungen ab, auch zu inhaltlichen Schwächen. Sie verlangen Umschichtungen bei den Kompetenzen der einzelnen Kommissare. Präsident Juncker bekommt dadurch die Gelegenheit, sofort zu reagieren. Er könnte die Zuständigkeiten zwischen einzelnen Kommissaren tauschen (etwa Moscovici und Katainen), oder er verlagert Teilkompetenzen (indem Canete etwa nur für Energie, nicht aber Klimaschutz zuständig wäre).

Am Ende könnte sich ein fertiges Puzzle ergeben, das nicht nur bei den beiden "Großkoalitionären" Zustimmung findet, sondern in allen Fraktionen. Am Ende könnten dies Juncker und Schulz, Kommission und Parlament gemeinsam als Aufbruch in eine neue Ära der demokratischen Zusammenarbeit "verkaufen". Wenn alle vernünftig sind, wird es so laufen, prophezeit ein langjähriger Abgeordneter, vorher müssen aber noch ein paar von den Bäumen wieder herunterklettern, auf die sie in den vergangenen Tagen gestiegen sind. (Thomas Mayer, derStandard.at, 4.10.2014)