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Das World Trade Center steht noch, aber die Katastrophe liegt in Thomas Pynchons Roman "Bleeding Edge" schon in der Luft.

Foto: Hellgoth, Brigitte / SZ-Photo / picturedesk.com

Wien - Inherent Vice, Paul Thomas Andersons Verfilmung von Thomas Pynchons gleichnamigem Roman, feierte vergangenes Wochenende auf dem New York Filmfestival ihre Premiere. Es ist die erste Adaption eines Buchs des geheimnisumwitterten, öffentlichkeitsscheuen US-Autors überhaupt, und es gibt das hartnäckige Gerücht, er wäre an einer Stelle des Films zu sehen. Man darf gespannt sein, ob und wie schnell die Pynchon-Maniacs, sobald der Film einmal in die Kinos kommt, fündig werden.

Die Anonymität des Autors von so bedeutenden Werken der US-Literatur wie V. oder Die Enden der Parabel ist dabei weit mehr als ein Spleen. Es handelt sich auch um eine Weigerung, der Ökonomisierung des Buchmarkts zuzuarbeiten. Umso interessanter ist es, dass Pynchon nun in seinem jüngsten, soeben auf Deutsch erschienenen Roman Bleeding Edge (Rowohlt) ausgiebiger, wenngleich mit vertraut sprachspielerischem und popkulturell versetztem Überschwang an der Gegenwart Maß nimmt.

Es handelt sich um ein 9/11-Buch, wenn man so will - wobei Pynchon lieber die Chiffre "11. September" benützt. Rund um den Terrorakt entwirft es eine alternative Lesart der Geschehnisse, ein dunkles Netz aus Vermutungen, und verknüpft diese mit der ersten Depression um das Internet, die auf das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 folgte.

Das überrascht insofern, als Pynchon zwar als Großmeister der konspirativen Erzählung gilt, um die dafür exemplarischsten Beispiele der Geschichte aber stets einen großen Bogen machte. Wenn er nun jenes Ereignis ins Visier nimmt, um das sich wohl die meisten (und dümmsten) Verschwörungstheorien ranken, dann scheint er den paranoiden Stil seines Schreibens an einer Wirklichkeit zu messen, die ihn mittlerweile eingeholt hat.

Nun stehen sie sich, quasi Angesicht zu Angesicht, gegenüber. US-Autor Michael Chabon zog in seiner Besprechung in The New York Review of Books daraus den Schluss, Pynchon ziele in Bleeding Edge erstmals über das Mittel der dramatischen Ironie hinaus - er würde, was sehr mutig ist, von den Begrenzungen dieses oft genützten Konzepts erzählen.

Zum Platzen gefüllt

Auf die Überprüfung der Annahme, dass die Wirklichkeit jede Erfindungskraft übertrifft, legt es Pynchon aber nicht an. Denn das Buch ist selbst wie eine virtuelle, zum Platzen gefüllte Gegenwelt konzipiert: ungemein belesen, voller (irr)witziger Einfälle und schräger Volten, voller Retrostücke (wer erinnert sich an Curbys?), die zweckentfremdet wiederkehren. Man spürt förmlich, wie intensiv der immerhin auch schon 77-jährige Autor an gegenwärtigen (und auch schon etwas betagteren) Diskursen teilhatte - selbst wenn sie die mysteriöse Schwester des Internets, das Deep Web, betreffen.

Wie schon in Inherent Vice bedient sich Pynchon der Erzählform des Kriminalromans, um aus der Perspektive einer sympathisch geerdeten Privatermittlerin namens Maxine Tarnow - ihre Agentur heißt "Tail 'Em and Nail 'Em" - in ein Geflecht aus Verdachtsmomenten zu führen. Und wie so oft bei diesem Autor ist der Plot im Sinne einer kohärenten Handlung nicht zu entschlüsseln, selbst wenn es sich bei Bleeding Edge um eines seiner luftigeren Bücher handelt. Den Durchblick hat allerdings auch die Heldin selten, was sich die schlagfertige Mutter zweier Kinder freilich nicht anmerken lässt. Distanz zu ihrem Fall wahrt sie nur bedingt, einem zwielichtigen NSA-Agenten vermag sie etwa sexuell nicht zu widerstehen. Mit solchen Ausrutschern untergräbt Pynchon zwar die Glaubwürdigkeit seiner Figur, bringt sie uns dafür aber in einem menschlichen Sinne näher.

Körperlichkeit, Cleverness und "street credibility", das sind hier eindeutig postive Werte, verkörpert von New Yorkern, die Widersprüche in sich austragen. Auf der anderen Seite steht die undurchdringliche Gelacktheit von Gabriel Ice, einem Onlineunternehmer, der Spekulationen verfolgt und bald in Verdacht steht, entweder mit Jihadisten oder dem Mossad bei Nahostgeschäften in Verbindung zu stehen. Überwachungsszenarien, wie sie Edward Snowden praktisch gleichzeitig zum Erscheinen des Romans geleakt hat, werden hier bereits, burlesk überspitzt, als neue Zeichen der Zeit beschrieben.

Pynchon geht es allerdings nicht um die Verschwörung per se - auch wenn ein paar Supernasen schon Tage vor dem 11. September den Geruch der Tragödie wittern -, sondern um den kulturellen Verfall, den die Anschläge nur noch beschleunigen. Das Internet (hier in Form des werbungsfreien, vor Kreativität strotzenden Deep Web), aber auch New York selbst, das unter Bürgermeister Rudy Giuliani zur sterilen Shoppingmeile degradiert wurde: Pynchon verzeichnet in Bleeding Edge einmal mehr verlorene Utopien und damit verbunden den Niedergang der Gegenkultur. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 8.10.2014)