Die Nibelungenbrücke verbindet den Norden mit dem Süden von Linz. In der Besatzungszeit war sie jedoch Demarkationslinie.

Foto: Stadt Linz
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Linz - Es ist wahrscheinlich einer der letzten warmen Vormittage in diesem Jahr. Die Türen der Vinothek sind weit geöffnet, drinnen wie auch draußen sitzen an runden Tischen (Früh-)Pensionisten. Ihre Leder- oder Jeansjacken haben die meisten schon über die Stuhllehne gehängt, und es rennt der Schmäh. Bei der "Chefin" wird der nächste Gespritzte weiß geordert. Auch wenn dem Pepi der neu gestaltete Grünmarkt mit der Halle aus dem "modernen Klumpert", sprich: Glas und Stahl, nicht so gefällt, kommt er trotzdem freitags und an so manch anderem Wochentag hierher nach Alt-Urfahr.

Warum er nicht zum Linzer Südbahnhofmarkt ausweicht, wo noch "richtige Standln" stehen? "In die Stadt, na wirklich net", da ist sich der Stammtisch einig. Schließlich seien sie alle alteingesessene Urfahraner, über die Donau geht's nur, wenn's sein muss. "Urfahr ist eine eigene Republik", tönt es aus der Runde: "Wir sind Urfahraner, kane Linzer!"

Eine Erklärung, weshalb der Norden der oberösterreichischen Landeshauptstadt so auf seine eigene Identität pocht, kann keiner von ihnen wirklich geben. Das sei "eine eigene Wissenschaft". Für Pepi und seine Spezln gehört Linz jedenfalls zu Urfahr und nicht umgekehrt. "Wieso haben wir hier sonst die Hauptstraße und die Linzer nur die Landstraße?" Die Grenze bildet die Nibelungenbrücke. Das stamme noch aus der Nachkriegszeit, als der Norden der Stadt von den Russen und der Süden von den Amerikanern besetzt war, ist sich der Stammtisch einig.

Getrennte Geschichte

Doch nicht erst seit der Besatzungszeit hält sich, vor allem in den Köpfen der älteren Generation, das Bild von der Donau als Stadtgrenze. Die Ursache dafür liege zeitlich noch weiter zurück, erklärt der Historiker Roman Sandgruber. "Es gibt ein lange getrennte Geschichte", sie reiche bis ins Mittelalter. Denn eigentlich sei ein Fluss nichts Trennendes. "Der Name Urfahr stammt von Überfuhr, für das nur die Urfahraner das Geschäft hatten", erläutert der Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Johannes-Kepler-Universität Linz. Dementsprechend heftig sei auch der Bau der ersten Donaubrücke (sie entstand an der Stelle der heutigen Nibelungenbrücke) im Jahr 1501 bekämpft worden. Die Linzer argumentierten, damit hätte Urfahr leichter Zugang zur Kirche, denn trotz Eigenständigkeit gehörte es zur Pfarre Linz. Die offizielle Ernennung Urfahrs zur Stadt erfolgte erst 1882. Nach dem Ersten Weltkrieg und zahlreich gescheiterten Versuchen wurde die Stadt mit 15.000 Einwohnern im Mai 1919 dann aber doch zu Linz eingemeindet.

DDT an der Demarkationslinie

Verstärkt wurde das trennende Element durch die Zeit der Besatzung von 1945 bis 1955, führt der Historiker weiter aus. Die Donau als Demarkationslinie teilte den sowjetisch besetzten Norden der Stadt mit dem Mühlviertel vom südlichen, amerikanisch besetzten Rest. In jenen zehn Jahren entwickelten sich die beiden Zonen wirtschaftlich weit auseinander. Der Süden von Linz rückte zum Industriestandort auf, der Norden hingegen wurde zur Krisenregion. Strenge Kontrollen an der Grenze auf der Nibelungenbrücke bis 1953 waren die Folge. "Anfangs war es so extrem, dass die Amerikaner die, die aus Urfahr kamen, mit dem Insektengift DDT einsprühten. Dies sollte vor Läusen schützen", sagt Sandgruber.

"Jeder musste auf der Brücke aus der Bim aussteigen und eine gelbe Karte zeigen", weiß auch Pepi. Als dann 1953 die Kontrollen fielen, tanzte der damalige Landesshauptmann Heinrich Gleißner mit Elmire Koref, der Frau des Bürgermeisters, auf der Brücke einen Walzer. Davon erzählt die Herrenrunde am Grünmarkt, als ob sie selbst dabei gewesen wäre.

Fehler in der Stadtentwicklung

Trotz des Freudenfestes ob der Wiedervereinigung sind Linz und Urfahr aber nicht gänzlich zusammengewachsen. Da wurden nach Ansicht von Sandgruber in den letzten Jahrzehnten auch städtebaulich Fehler gemacht. Statt die Donau länger als Grenze zu sehen, hätte man "das Faszierende, das von einem Fluss ausgeht", nutzen können. Doch "Linz wurde nicht an die Donau geholt". So wirke die Donauachse am Südufer mit der stark befahrenen Oberen und Unteren Donaulände wie eine Trennungslinie zwischen Stadt und Fluss. Und noch immer zählt Urfahr als Hauptort der Viertel im Norden Oberösterreichs. So sei die Bezirkshauptmannschaft Urfahr für das mittlere Mühlviertel zuständig, ebenso wie das Bezirksgericht.

"Wir haben die Uni, die Linzer das Narrenhaus (Landesnervenklinik Wagner-Jauregg Anm. d. Red.)." Die nächste Spitze lässt in der Vinothek am Grünmarkt nicht lange auf sich warten.

"Der Mensch ist ein Wesen, das Grenzen will, er möchte sich abgrenzen", nennt der Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler einen weiteren Grund, warum Urfahr nicht Linz ist. Zuerst suche man die Gemeinschaft, wenn es von Vorteil sei, zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen. "Dann ist man stolz auf seinen Bezirk oder seine Klasse, seine Zugehörigkeit. Jetzt will am sich abgrenzen, um das Positive herauszuheben," meint Girtler. Denn, so habe er festgestellt, "Grenzen geben dem Leben auch einen gewissen Zauber." Man entwickle eine eigene Tracht, eigene Wörter. Nur eines müsse man beachten: "Man darf andere nicht erniedrigen." Aber der Urfahraner mache es ja lustig, blödle herum: "Was Gott durch einen Berg oder Fluss getrennt hat, soll der Mensch nicht verbinden."

Die "Chefin" bringt die nächsten Gespritzten weiß zum Stammtisch, bevor es am Nachmittag auf den "Urfix" auf a Hendl und a Halbe geht. Für Pepi ein Pflichttermin. "Schon als Bursch bin i immer in Krankenstand g' angen, wenn Markt war."

Dort haben dann die Urfahraner Burschen gegen die Linzer gerauft", sagt Girtler.

Diese "Revierkämpfe" gibt es heute nicht mehr. Und auch der Linzer ging schon immer zum Urfix und nicht zum Urfahraner Jahrmarkt. Pepi: "Weil's bei uns halt einfach g'mütlich ist." (Kerstin Scheller, DER STANDARD, 13.10.2014)