Es ist acht Uhr morgens, und die Sonne brennt über Koh Rong - noch nicht so unbarmherzig wie drei Stunden später, als der Weg durch den Dschungel zum Five Mile Beach sich anfühlt wie ein Besuch am Set von Apocalypse Now, aber doch so beharrlich, dass sich eine Abkühlung im Golf von Thailand aufdrängt.

Fische springen aus dem Wasser, ein Weißbauchseeadler kreist über dem Türkisblau, grün gestrichene Fischerboote tuckern an Land. Wie war noch mal das Wort? Paradies, Himmel, Märchenland? An den weißen Sandstränden von Kambodschas zweitgrößter Insel, rund 25 Kilometer von der Hafenstadt Sihanoukville entfernt, wachsen Träume in den Himmel.

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Kaum eine Kambodscha-Reise führt auf dieses Eiland, das nur eine Fähre ansteuert, ein wackliger Holzkahn, der je nach Wetter zwei oder drei Stunden braucht.

Wortwörtlich: Acht Mobilfunkmasten sind strategisch über die 78 Quadratkilometer der Insel verteilt, die so groß wie Hongkong ist, auf der laut jüngster Zählung jedoch nur 165 Familien in vier Fischerdörfern - zwei im Norden, zwei im Süden der Insel - leben. Eine Rekordzahl von 3,5 Millionen Touristen kam vergangenes Jahr in das arme südostasiatische Land - allein 2,5 Millionen davon, um die Tempelanlage von Angkor zu sehen -, doch kaum eine Kambodscha-Reise führt auf dieses Eiland, das nur eine Fähre ansteuert, ein wackliger Holzkahn, der je nach Wetter zwei oder drei Stunden braucht.

Tourismus heißt das Zauberwort

Warum dann diese Masten? Ein Flughafen, erzählen Einheimische in gebrochenem Englisch, soll gebaut werden, ein Casino, sagt ein anderer, ein Golfplatz, meldet die BBC. Tourismus heißt das Zauberwort, das diesen Zipfel der Welt aus dem Dornröschenschlaf wecken soll - auch mit einem vernünftigen Telefonnetz.

Eine Restangst bleibt, aus Koh Rong könnte das nächste Koh Samui werden, eine ebenso unwirklich schöne Insel im benachbarten Thailand, die unter einem überfallartigen Partytourismus leidet.
Foto: Ulf Lippitz

2006 hat der einheimische Tycoon Kith Meng die Insel für 99 Jahre gepachtet, ein 44-jähriger Selfmademan, der seine Kindheit in Arbeitslagern der Roten Khmer verbrachte und heute der einflussreichen Royal Group vorsteht - einem Konglomerat von Finanz-, Hotellerie- und Telekomfirmen. Genaue Pläne hat Meng nicht verraten. In einer öffentlichen Pressemitteilung ließ er lediglich erklären, dass auf Koh Rong "nachhaltiger" Tourismus gefördert werde, um "die Fehler vorher entwickelter Paradiese in Südostasien zu vermeiden". Eine Restangst bleibt, aus Koh Rong könnte das nächste Koh Samui werden, eine ebenso unwirklich schöne Insel im benachbarten Thailand, die unter einem überfallartigen Partytourismus leidet.

Überschaubar

An der Südküste in Koh Tui, wo das Schiff aus Sihanoukville anlegt, hat sich die Zahl der Backpacker-Unterkünfte zwar mehr als verdoppelt, knapp ein Dutzend Resorts wartet neuerdings auf Gäste, doch von einem Ansturm kann keine Rede sein. Die Anreise ist nach wie vor beschwerlich, die Zimmerzahl mit rund 100 Bungalows auf der ganzen Insel begrenzt und der Komfort überschaubar. Manche Gästehäuser haben nur vier Stunden Strom am Tag, die Kanalisation ist, nun ja, ursprünglich. Dafür schätzen viele der Rucksacktouristen das stundenlange Herumlümmeln in Hängematten, das Schnorcheln im Meer oder die Wanderung zu einem der 30 Strände.

Nur ein Boot täglich bringt derzeit Gäste auf die Insel Koh Rong in Kambodscha, auf der es vier Fischerdörfer gibt.
Foto: Ulf Lippitz

Zum Beispiel zum Five Mile Beach an der Westseite, wobei "wandern" eine vornehme Umschreibung für "durch den Dschungel kämpfen" sein kann. Nach einer Kajaktour durch einen schlammigen Fluss und an Mangroven vorbei, legt Sal, der einheimische Touristenführer, an einem künstlichen Damm an. Darüber verläuft eine rötlich-braune Piste, die einzige Straßenverbindung von Nord nach Süd - die allerdings noch nicht fertiggebaut ist. Fast 90 Minuten geht es nun die Schneise entlang. Sal erzählt von seinem Traum, einmal Betriebswirtschaft zu studieren und ein Hotel aufzumachen.

Ein Waran zum Essen

Ein grauer Langschwanzmakak läuft über den Weg, sichtlich verwirrt, hier Menschen zu sehen. Auch seltene Zibetkatzen und Schuppentiere leben in den Urwäldern, halten sich jedoch bewusst von den Dörflern fern. Die Menschen von Koh Rong nehmen das Jagdverbot nicht so genau. Auf dem Weg zum Strand treffen wir einen alten Bauern, der in einem Sack einen Waran gefangen hat. "Zum Essen", sagt Sal.

So muss das Traumziel ausgesehen haben, dem Leonardo DiCaprio in The Beach hinterhergejagt ist. Das Wasser ist kristallklar und lauwarm, unter den Palmen lässt es sich hervorragend dösen.
Foto: Ulf Lippitz

Und dann öffnet sich plötzlich der Blick auf einen kilometerweißen Sandstrand, an dem nur am Nordrand ein kleines Dorf liegt. So muss das Traumziel ausgesehen haben, dem Leonardo DiCaprio in The Beach hinterhergejagt ist. Das Wasser ist kristallklar und lauwarm, unter den Palmen lässt es sich hervorragend dösen. Hier könnte man getrost denken, der einzige Mensch im Paradies zu sein. Das fanden auch die Produzenten der französischen Realityshow Koh Lanta und verfrachteten ihre Teilnehmer auf diese "unbewohnte Insel", wo sie Überlebenstests bestehen sollten.

Es ist nicht alles perfekt am Traumstrand

Sie bauten 2012 ihre Hütten an den Strand, neben den Fischern, und verließen sie ein Jahr darauf, als ein Teilnehmer im März 2013 an Herzversagen starb. Die Sendung wurde abgebrochen. Die Unterkünfte für das Team stehen noch. Was sich nicht verändert hat: der angespülte Müll am Strand, Plastikflaschen von Fischerbooten, Sackerln, Deckel. Es ist nicht alles perfekt am Traumstrand.

Bisher ist Song-Saa das einzige Luxusresort in ganz Kambodscha. Es liegt auf einer Miniinsel nordöstlich vor Koh Rong und bietet nicht nur Rundumbetreuung, sondern auch 24 Stunden Strom und natürlich einwandfrei funktionierendes Internet.
Foto: Song Saa Private Island

Außer natürlich, man ist Gast im Song-Saa-Resort - einem Prestigeprojekt, das zwar nicht unter Mengs Ägide entstand, aber möglicherweise seine Vision bereits vorwegnimmt. Bisher ist es das einzige Luxusresort in ganz Kambodscha. Es liegt auf einer Miniinsel nordöstlich vor Koh Rong und bietet nicht nur Rundumbetreuung, sondern auch 24 Stunden Strom und natürlich einwandfrei funktionierendes Internet. Mit den teils ins Wasser gebauten Villen sieht die vorgelagerte Insel wie eine Kulisse aus einem James-Bond-Film aus.

Klasse statt Masse

Selbst hier, wo Köche an Khmer-Fusion-Gerichten feilen, Nashornvögel über die Bäume hinwegfliegen und Flughunde durch den nächtlichen Palmenhain flattern, ist man an keinem überstürzten Ausbau der Mutterinsel interessiert. Klasse statt Masse. Als Melitta und Rory Hunter aus Australien den bewaldeten Felshügel vor acht Jahren entdeckten, wollten sie hier ihren Traum vom Hotel erfüllen, weil der Archipel paradiesisch leer war.

Die Tagesaktivitäten sind auch hier durch die Natur vorgegeben: entweder im Wasser schnorcheln oder den Hügel hinauf durch den Dschungel wandern.
Foto: Ulf Lippitz

Die Hunters setzten sich dafür ein, dass um ihre Insel herum ein 200-Meter-Radius zum marinen Schutzgebiet erklärt wurde. Parallel begannen sie eine Stiftung einzurichten und die Einheimischen im nahen Dorf Prek Svay einzubinden. Die Stiftung stellte 50 Mülleimer im Dorf auf, baute die Schule aus, und Einheimische vom Festland zeigten den Menschen von Prek Svay, wie sie Cashewnüsse anbauen und welche Naturschätze sie schützen können.

Die Natur gibt’s vor

Von dieser Pionierarbeit profitieren nun die Backpacker. Das Palm Beach Guesthouse mit knapp einem Dutzend Hütten hat gegenüber dem Exklusivhabitat aufgemacht, als erste Budget-Unterkunft im Nordosten von Koh Rong. Die Tagesaktivitäten sind auch hier durch die Natur vorgegeben: entweder im Wasser schnorcheln oder den Hügel hinauf durch den Dschungel wandern. Eine riesige gelb-schwarze Spinne und ihr Netz versperren den Aufstieg, mehr Überredungskunst braucht es nicht, um auch im Wald die Tauchermaske aufzusetzen. Auf dem Weg zurück zur kleinen Bucht liegt eine verwitterte Spielkarte - ein sicheres Zeichen, dass ein Einheimischer hier war. Die Menschen auf Koh Rong sind geradezu süchtig nach Kartenspielen.

Hier gibt es kein einziges Auto

Von diesen Außenposten abgesehen, bleibt Prek Svay vom Tourismusboom so gut wie verschont, leider aber auch von Aufstiegsmöglichkeiten für seine Bewohner. Die Südspitze ist rund 20 Kilometer entfernt, die staubige Buckelpiste noch nicht bis in den Ort fertiggepflügt, was die Einheimischen wenig stört. Im Fischerdorf gibt es kein einziges Auto, allerdings tuckern Mopedfahrer sehr elegant über einen breiten Holzsteg. "Es gibt nur ein Auto auf der Insel", erklärt Barnaby Olson, ein junger Meeresbiologe aus Australien, der für die Song Saa Foundation arbeitet. Und dieser eine Wagen gehört der Baufirma, die jene Schneise mitsamt Piste in den Wald schlägt.

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Barnaby Olson führt durch das Dorf, das er seit knapp zwei Jahren kennt. Er erzählt von der Zeit der Roten Khmer, als alle Familien gezwungen wurden, die Insel zu verlassen und auf dem Festland zu arbeiten. Erst Anfang der 1990er-Jahre kehrten die Menschen zurück. Der Australier weiß noch nicht, was er von den neuen Unterkünften im Süden der Insel halten soll. Ob das alles so nachhaltig wird? In der kommenden Woche will er hinunterfahren, um Mitarbeiter von anderen NGOs zu treffen und sich auszutauschen. Nicht jeder gute Wille zeitigt eine Wirkung. Er zeigt auf ein gelbes Holzhaus, den Kindergarten, den eine italienische NGO gestiftet hat - leider ohne Strom, Bücher oder Unterrichtsmaterialien.

Es ist still an diesem Nachmittag

Der Mopedfahrer wackelt wieder über den Steg. "Das Venedig von Koh Rong", murmelt Barnaby Olson trocken - weil von hier die Ansicht mit Lagune und Brücke ein klein bisschen an die Rialtobrücke erinnert. Während er auf das Boot zurück zur Insel Song Saa wartet, grüßt Barnaby ein paar Einheimische, die träge in der Nachmittagshitze liegen. Eine Hündin säugt ihre Jungen, die Welpen nuckeln aufreizend langsam, die Mutter liegt wie vom Schlag getroffen auf der Erde - schwer zu sagen, wer hier tiefer schläft. An der Lagune stehen die Holzhäuser dicht an dicht, in einem davon zockt lautlos eine beinharte Frauenrunde. Vier Damen spielen, ohne ihr Pokergesicht zu verziehen. Es ist still an diesem Nachmittag in Prek Svay - unwirklich, wie die Ruhe vor dem Sturm. (Ulf Lippitz, Rondo, DER STANDARD, 16.10.2014)