Wien/Brüssel - Finanzminister Hans Jörg Schelling dürfte schon bald mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie sein Vorgänger Michael Spindelegger. Dieser musste auf Druck der EU-Kommission sein Budget nachbessern. Im November wird Schelling aller Voraussicht nach ein Antwortschreiben aus Brüssel auf dem Schreibtisch haben.

Frage: Warum droht Österreich schon wieder ein Mahnbrief aus Brüssel?

Antwort: Hintergrund sind die nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf EU-Ebene verschärften Haushaltsregeln. Die EU-Kommission fordert von Österreich, das strukturelle Defizit bereits im kommenden Jahr auf 0,45 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) zu senken. Ab diesem Wert spricht man unter den Brüsseler Ökonomen bereits von einem strukturell ausgeglichenen Haushalt. Österreich hat nun ein Defizit von 1,0 Prozent gemeldet, erst 2016 strebt man die 0,45 Prozent an.

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Wird die Budgets der Mitgliedsländer genau unter die Lupe nehmen: der designierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
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Frage: Was versteht man überhaupt unter dem strukturellen Defizit?

Antwort: Gemeint ist jenes Defizit, das um Einmaleffekte (etwa für Bankenrettungen) und vor allem um Konjunktureffekte bereinigt ist. Man versucht also die Wirtschaftsleistung bei "normaler Auslastung" bzw. unter Berücksichtigung der "natürlichen Arbeitslosigkeit" abzubilden. Ein Beispiel: Im Rezessionsjahr 2009 lag das gesamtstaatliche Defizit bei 4,1 Prozent, das strukturelle Minus nur bei 2,7 Prozent. Auf EU-Ebene wird nun primär mit der neuen Kennzahl gerechnet, weil man der Ansicht ist, mit dieser könne die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen besser beurteilt werden.

Frage: Warum ist das umstritten?

Antwort: Vor allem, weil die "normale Auslastung" bzw. die "natürliche Arbeitslosigkeit" immer nur geschätzt, nicht gemessen werden kann. Man versucht also mittels mathematischer Modelle zu ermitteln, wie ausgelastet die Wirtschaft ist bzw. wie viele Kapazitäten am Arbeitsmarkt und bei Unternehmen ungenutzt sind.

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Kanzler Werner Faymann zweifelt an den Methoden der EU-Kommission.
Foto: reuters/LEONHARD FOEGER

Frage: Bundeskanzler Werner Faymann hat die EU-Kommission kritisiert, weil diese angeblich die Berechnungsmethode beim strukturellen Defizit geändert hat. Was verbirgt sich hinter diesem Streit?

Antwort: Die Methode wurde zwar nicht geändert. Im Prinzip geht es aber darum, welche mittelfristigen Folgen man aus dem aktuellen Wirtschaftsabschwung ableitet. Das Wifo hat ja seine Wachstumsprognose für die Jahre 2014 bis 2018 deutlich gesenkt (von durchschnittlich 1,8 Prozent im Februar auf 1,4 Prozent im September dieses Jahres). In den Modellen der EU-Kommission hätte das zur Folge, dass die Lücke zwischen der tatsächlichen und der bei Normalauslastung möglichen Produktion schrumpft. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der strukturelle Anteil des Budgetdefizits größer geworden ist.

Frage: Was ist nun der konkrete Kritikpunkt?

Antwort: Der Hauptvorwurf ist: Das Ziel, Konjunkturkrisen herauszurechnen, wird nicht erreicht, wenn bei einem Wachstumseinbruch wie jetzt trotzdem das strukturelle Defizit steigt. Das Wifo äußert in einer aktuellen Analyse für die Regierung die Befürchtung, dass die EU-Kommission nun von mehreren Ländern "zusätzliche Konsolidierungsschritte" einfordern wird. Für sinnvoll hält das Wifo-Experte Josef Baumgartner nicht: "Das Problem an der Methodologie ist, dass sie zu Empfehlungen führt, die in Abschwungphasen - so sie denn umgesetzt werden - noch zusätzlich restriktiv wirken und den Abschwung sogar verstärken können."

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Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling darf mit Post aus Brüssel rechnen.
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Frage: Welche Folgen hätte das für Österreich?

Antwort: Das Wifo hat zwei Modellrechnungen durchgeführt. In beiden Fällen würde Österreich die geltenden Fiskalregeln der EU im Jahr 2015 verletzen. Bei jener Variante, die nach Ansicht der Wirtschaftsforscher der EU-Herbstprognose "am nächsten kommen dürfte", würde Österreich das strukturelle Defizit um mehr als einen Prozentpunkt oder umgerechnet 3,3 Milliarden Euro verfehlen. Vor diesem Hintergrund sei zu erwarten, dass die Regierung aufgefordert werde, Nachbesserungen im Budget vorzunehmen. Abweichungen zu dieser Wifo-Einschätzung sind aber durchaus möglich, da die Evaluierung des österreichischen Haushalts durch die EU-Kommission auf deren eigener Prognose basieren wird, die erst im November veröffentlicht werden.

Das Wifo-Papier im Wortlaut

Frage: Welche Sanktionen drohen Österreich?

Antwort: Weigert sich die Regierung, auf Empfehlungen der Kommission einzugehen, kann sie verpflichtet werden, eine Strafe in Höhe von 0,2 Prozent des BIPs in Brüssel zu hinterlegen. Das wären rund 650 Millionen Euro. Wird dann noch immer nicht reagiert, bleibt der Betrag beim EU-Rettungsfonds. Eine Mehrheit könnte auf EU-Ebene aber von einer Strafe absehen. (Günther Oswald, DER STANDARD, 16.10.2014)