Die meisten Menschen laufen Wettbewerbe, um ihre persönlichen Bestzeiten zu verbessern. Man kann in einem Rennen aber auch an anderen Details feilen – dem eigenen Ehrgeiz etwa

Normalerweise hätte ich dieses Angebot nie und nimmer ausgeschlagen: "Ich pace dich", hatte mir Elisabeth Niedereder vorgeschlagen, als ich mich nach dem Wachau-Halbmarathon über meine Zeit so richtig ärgerte. Beim Herbstmarathon des LCC, bot die Mehrfach-Staatsmeisterin und Triathlonplattform-Betreiberin an, würde sie mir helfen, mich zu revanchieren. An und bei mir selbst.

Ich sagte ab: 14 Tage nach dem Wiener Herbstlauf würde ich beim Marathon in New York starten. Sich da zwei Wochen davor die richtige Kante zu geben, ist nicht gerade die beste Idee.

Foto: Thomas Rottenberg

Es kam ohnehin anders. Weil mich kurz darauf erwischte, was davor und danach mein gesamtes Umfeld zwischenzeitlich umnietete: Herbst ist eben Verkühlzeit. Und wenn man, statt im Bett zu dünsten, im Freien arbeitet, wird aus einer Woche Pause ein dreiwöchiger Trainingsausfall.

Das rächt sich. Nachhaltig: im Grundlagenbereich. Beim Topspeed. Bei der Tempohärte – und den Regenerationsphasen: Den Traum, in New York 42 Kilometer in drei Stunden und 15 Minuten zu laufen, solle ich ganz rasch ad acta legen, eröffnete mir meine Trainerin Sandrina Illes. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte ich es auch selbst gespürt: Alles unter vier Stunden wäre in NY ein Wunder.

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Der eigenen Form hinterherlaufen ist elend. Und bringt wenig. Weil Druck nur Gegendruck macht. Und es um nichts geht. Mehr, als das Beste aus dem zu machen, was realistisch ist, und Spaß zu haben, ist bei Hobby- und Jedermann-/-frauläufern nicht zielführend: Bei den ersten Läufen nach der Pause nahm ich mir an den Liu-Ting-Tai-Chi-Chinesen vor dem Theseustempel im Volksgarten ein Beispiel: Herr Li, der Si-Fu der Gruppe, ist jeden Tag um 8 Uhr morgens hier. Einfach so.

Wer mitmachen will, macht mit. Herr Li freut sich – und teilt. Ohne Ehrgeiz. Ohne Eitelkeit. Dass sogar Bundespräsident Heinz Fischer da schon mitmachte, würde er nie aktiv und laut herausposaunen. Weil es um etwas anderes geht. Darum, mit sich selbst im Einklang zu sein. Wurscht, was andere dazu sagen. Und wurscht, ob das Tai-Chi, Eckenbegrüßen, Stricken oder eben Laufen ist.

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Ich lief. Lang und langsam. Allein. Manchmal tut das gut. Aber ich bekam Angst: Einen Langstreckenlauf verliert man beim Start. Wenn das Rennadrenalin davor ins Blut schießt, gibt man gerne zu rasch Gas. Anfängerfehler? Nicht nur: Wenn ein Pulk loszieht, der nur ein Alzerl schneller als man selbst ist, bleiben auch routinierte Läuferinnen und Läufer gern picken. Und zahlen nach zehn, 15 oder 20 Kilometern nicht nur Schulden, sondern kämpfen auch mit den "Wucherzinsen" der eigenen Undiszipliniertheit.

Ich kenne mich: Ich bin anfällig. In NY mit 50.000 nervösen, aufgeregten Läufern stundenlang im Startblock zu warten, bis es endlich losgehen würde – und dann die Zügel straff und das Tempo unten halten? Hardcore.

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Langsamlaufen kann man üben. Wieso nicht auch Langsamstarten? Etwa beim LCC-Herbstmarathon. Für den Renntag standen drei Stunden Training auf meinem Plan. Locker. Ab der Hälfte ein bisserl angasen. Aber nicht voll.

Sandrina nickte den Plan ab: am Sonntag langsam starten. Die ersten 14 Kilometer langsamer als sechs Minuten am Kilometer. Dann schauen, was drin ist. Aber nicht zu 100 Prozent auspowern.

Am Samstag lief ich auf der Hauptallee fast in Susanne Pumper hinein: Die LCC-Präsidentin war mit dem Vermessungsrad unterwegs. "Die Leute fragen, ob ich glaube, dass die Hauptallee sich übers Jahr verschoben habe – aber ich schlafe vor einem Event immer ganz schlecht, wenn ich nicht selbst noch einmal nachkontrolliert habe, ob alles stimmt."

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Renntag. Start ist im Stadion. Adrenalin und Ehrgeiz waren aber schon in der U-Bahn, am Weg dorthin, zu spüren: Die Strecke ist flach und schnell. Das Wetter war ideal, um persönliche Bestzeiten anzupeilen.

Dementsprechend hibbelig waren die meisten Läuferinnen und Läufer bei der Anreise und vor dem Start. Ich war von mir überrascht: Ich schaffte es tatsächlich, mich nicht einzuklinken.

Foto: Thomas Rottenberg

Start. Ich trabte gemütlich im hintersten Drittel des Feldes los. Geht doch!

Ein kurzer Blick zurück: Okay, vielleicht hatte ich mich doch in der Mitte des Feldes eingeordnet. Zusatzübung: gleich in der Startkurve zurückfallen lassen.

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Ein kurzer Blick auf die Uhr: Ich fühlte mich unendlich langsam, war aber schneller, weit schneller, als ich es mir selbst erlauben hatte wollen. Fehlersuche. Hatte mich mein Tempogefühl komplett verlassen? Nein.

Aber rund um mich gaben Leute Startgas, die just das machten, was ich zu vermeiden ausgezogen war: Da zogen gerade übergewichtige Sieben-Kilometer-Läufer und Senioren an mir vorbei. Meine Augen sahen, und meine Füße reagierten. Da bewusst Tempo herauszunehmen braucht tatsächlich einiges an Selbstdisziplin. Eine spannende Übung.

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Beim ersten Kilometer sah ich einen blauen Luftballon vor mir in der Luft herumspringen: Er hing am Schrittmacher für jene Marathonläufer, die in vier Stunden die Langstrecke bewältigen wollten. Die berühmte 5'40"er-Pace also. Ich schloss mit mir einen Deal ab: In einem Marathonfeld fühlen sich sechs Minuten am Kilometer wie sieben solo an. Also sind 5'40" gefühlte sechs: Selbstbetrug? Ja, eh. Aber was soll's denn: Ein bisserl Spaß muss das Laufen schon auch machen.

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Der Pacer hieß Ilan. Er lief ebenso untertourig wie ich. Ilan war froh, jemanden zum Tratschen zu haben. Wir hatten einander zuvor noch nie gesehen, entdeckten aber rasch eine große Gemeinsamkeit: Auch der Pacer lief sich für New York ein. "NY42" sei eben ein Traum. Rein läuferisch – obwohl Ilan weit stärker läuft als ich – hätte es auch bei ihm aber nie zu einem Startplatz gereicht.

"Ich habe übers Reisebüro gebucht. Eines der Pakete, mit denen man Startplatz, Hotel und Flug in einem kauft." In Summe, ist Ilan überzeugt, sei das kaum teurer, als sich alles selbst zusammenzustellen. "Ich bin so in Berlin gelaufen. Und in Jerusalem. Da solltest du mal hin." War ich schon. "Ja, eh." Wir lachen. "Ich meine: für einen Marathon."

Foto: Thomas Rottenberg

Wir hatten es fein. Schnatternd und lachend trabten wir dahin. Als wir gerade vier Kilometer in den Beinen hatten, sahen wir die Führenden wieder. Annabelle-Mary Konczer etwa: Die Wienerin hatte sich für die Kurzstrecke (eine Runde, also sieben Kilometer) entschieden und flog uns auf der Hauptallee förmlich entgegen. Eine schöne Stilstudie – dass Annabelle auch noch Zeit zum Zurückgrüßen hatte, freute uns natürlich.

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Das mit dem Grüßen ist ein nette Sache: Obwohl halb Österreich angeblich läuft, kennt man einander irgendwann dann doch. Halbwegs. Den Herrn im grünen "Nightrun"-Shirt habe ich beispielsweise in der Wachau kennengelernt. Beim Herbstlauf tauchte Oliver dann plötzlich in unsrem Pulk auf – mit einer Bekannten. Beide liefen den Halbmarathon.

Eine der einfachsten Laufregeln lautet, dass man im richtigen Puls- und Leistungsbereich rennt, solange man entspannt reden kann. Auch darum war die Runde um Ilan wohl auch für andere interessant: "Jö, bei euch G'schichtldruckern ist es lustig. Da laufen wir einmal ein bissi mit."

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Ilan würde nach 28 Kilometern (vier Runden) abgelöst werden. Er durfte nicht schneller werden. Ich schon: Nach nicht ganz elf Kilometern mit der 5:40er-Pace beschloss ich, dass ich jetzt lang genug brav gewesen sei, sagte Baba und wurde eine Spur schneller. Das ging gut – und tat auch gut.

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Ich dürfe, hatte Sandrina Illes gesagt, nach der halben Strecke durchaus versuchen, mein Wettkampftempo zu laufen. Oder halt das, was nach drei Wochen Pause und einer prompt wiederaufgebrochenen kleinen Verletzung drin sei. Schnell ist subjektiv: "Achtung, Führender!", hörte ich von hinten – dann kam zuerst ein Radfahrer und dann Vojtech Cabala. So zügig, als säße ich auf einer Parkbank. Cabala gewann den Halbmarathon. Mit 1:14:48. Das ist eine Pace von 3'33". Fast 17 km/h. Durchschnittstempo. Ich schaffe das keine halbe Minute. Spitzenläufer halten das über 21 Kilometer durch. In den meisten Fitnesscentern lassen sich Laufbänder ab 16 km/h nicht mehr schneller schalten. Aus Sicherheitsgründen …

Foto: Thomas Rottenberg

Genau darum geht es: Kapieren, dass es nicht darum geht. Dann wird Laufen entspannt. Natürlich setzt man sich Ziele. Stellt sich Aufgaben. Will. Aber es wird immer jemanden geben, der oder die heute schneller ist. Oder morgen. Oder weiter kommt. Oder in der Kombi "besser" ist. Die Benchmark ist nur man selbst. Darum habe ich noch keinen Spitzenläufer und keine Spitzenläuferin kennengelernt, die Hobbyläufern wie mir krampfhaft reindrücken, wie viel besser sie doch sind. V

on "Normalos" kriegt man das aber alle paar Minuten serviert (man braucht nur manche der Postings hier zu lesen). Klar ist es geil, wenn Profis sich zu mir auf Augenhöhe runterbücken: "Wolltest du nicht eigentlich ganz langsam laufen?", lachte Annabelle-Mary Konczer, als sie mir mit Elisabeth Niedereder und einem Freund entgegenkam. Sie lief ganz locker aus – in meinem Wettkampftempo. Aber die Ansage kam ohne Spott: Wer wirklich gut ist, hat es nicht nötig, nach unten zu treten.

Foto: Thomas Rottenberg

"Drei Stunden" waren auf meinem Trainingsplan für diesen Tag gestanden. Eigentlich sind Stehzeiten nicht vorgesehen.

Aber ein bisserl Anfeuern muss drin sein: Es war ein idealer Lauftag auf einer idealen Strecke – und viele der Läuferinnen und Läufer waren auf dem Weg zu persönlichen Bestzeiten. Da helfen Applaus und Anfeuern auf den letzten Metern tatsächlich noch.

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Außerdem wollte ich meine Speicher ein bisserl auffüllen: Ich war mit nicht ganz 1:51 über die Ziellinie gegangen. Auf den ersten Blick alles andere als eine Zeit, mit der ich zufrieden sein kann. Andererseits war da die Vorgeschichte. Und die erste Hälfte im Couchpotato-Modus. Plus die Vorgabe, nach 21 Kilometern ein bisserl weiter zu laufen: Wirklich enttäuscht brauchte ich wohl doch nicht zu sein.

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Also weiter. Auf der Strecke war noch einiges los, obwohl die HM-Elite schon längst fertig war: Beim LCC-Herbstmarathon stellt – wie bei fast allen gemischten Läufen – das Halbmarathon-Starterfeld die mit Abstand größte Gruppe. Josef Cap war einer von ihnen: Er brauchte 2:07 und belegte damit in seiner Altersklasse einen deutlich besseren Rang als ich in meiner. Mit ein Vorteil eines Rundkurses ist, dass man als Normalo nie ganz alleine ist, solange die Marathon-Elite unterwegs ist. Und: Freunde und Familie können öfter anfeuern.

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Ich lief Richtung Heimat. Quer durch die Stadt. Nicht mehr im Wettkampftempo. Das, spürte ich jetzt, hätte ich nicht über die gesamte Strecke halten können: So weit bin ich noch nicht. Wenn ich in New York durchkommen will, sagte mir mein Körper jetzt, würde ich es deutlich langsamer angehen müssen: Ilans Pacer-Tempo würde wohl passen.

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Wenn überhaupt. Am Naschmarkt, knapp vor der 30-Kilometer-Marke, meldete sich dann eine alte und bis vor einer Woche überwunden geglaubte Verletzung wieder. Und das, was mir mein Physiotherapeut einen Tag zuvor eröffnet hatte, poppte in meinem Kopf auf: "Ich hoffe, ich irre mich: Einen halben schaffst du locker – aber ab dem 30er könnte es ein schmerzhafter Höllenritt werden. Wenn es nicht New York wäre, würde ich mir den Start sehr gut überlegen." Nachsatz: "Aber ich weiß: Das geht gar nicht. Ich würde es selbst auch nicht anders machen."

Foto: Thomas Rottenberg

Früher hätte mich so etwas runtergeholt. Ganz gewaltig. Aber das war früher. Heute ist das anders. Da muss man aber auch erst draufkommen. Laufen ist zwar wunderschön, aber eben doch nur Laufen: Es gibt Wichtigeres. Viel Wichtigeres. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 22.10.2014)

Thomas Rottenbergs Teilnahme am New-York-Marathon erfolgt auf Einladung von "Runners Unlimited".

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