Der Stadtrand wächst gen Himmel: Mit anonymen Satellitenstädten - teilweise ohne öffentliche Infrastruktur - begegnet man in Istanbul dem explosionsartigen Stadtwachstum.

Foto: Zoidl

Auch in der Stadt wird nachverdichtet - oft im Rahmen eines Gentrifizierungsprozesses, mit dem die bisherigen Bewohner aus der Innenstadt vertrieben werden, etwa im umstrittenen Tarlabasi-Viertel.

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Der Wiener Wohnbau in Istanbul: Derzeit gastiert eine temporäre Ausstellung zum "Wiener Modell" im Österreichischen Generalkonsulat in Istanbul. Im Büro vom Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig (SPÖ) versuchte man beim Besuch einer Delegation vor wenigen Tagen angestrengt, Parallelen zwischen den beiden Städten zu finden (" städtisches und wirtschaftliches Wachstum"). Die gibt es aber kaum. Denn allein die Dimensionen sind andere: Mehr als 14 Millionen Menschen leben in Istanbul, jährlich zieht es 300.000 Menschen in die Metropole am Bosporus. Diese Zahlen sorgten auch für fassungsloses Kopfschütteln bei den Mitgliedern des "Vereins für Wohnbauförderung", der jährlich zu einer Studienreise in eine europäische Metropole aufbricht und kürzlich den Wohnbau in Istanbul unter die Lupe nahm. Ein jährliches Plus von 300.000 - das ist so viel Wachstum, wie Wien in den nächsten 20 Jahren insgesamt prophezeit wird.

Kontroversielles Projekt

160.000 neue Wohnungen werden in Istanbul im Jahr benötigt. Dem wird mit sterilen Satellitenstädten, die in Rekordzeit hochgezogen werden, und Verdichtung innerhalb der Stadt begegnet. Unglaublicherweise werden hier sogar mehr Wohnungen fertiggestellt als benötigt, berichtet Hakan Eren von Vesram Real Estate: Wurden 2002 noch 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche fertiggestellt, waren es im Vorjahr 125 Millionen. "Der Wohnimmobilienmarkt hat sich in den letzten Jahren erhitzt", sagt er - und warnt vor einer Blase: Der Verkauf von Wohnungen sei wegen steigender Kreditzinsen zurückgegangen, die Preise hätten ihren Höchststand erreicht. Zwei Millionen Wohnungen stehen leer, schätzt der Experte. Trotzdem wird weitergebaut.

Eines der derzeit wohl kontroversiellsten Projekte befindet sich unweit des Taksim-Platzes, wo im Vorjahr die Proteste ihren Ausgang nahmen: Im Tarlabasi-Viertel sieht es heute wie im Krieg aus. Wellblechwände verstellen den Blick auf Ruinen und Schutthaufen. Nur noch die ausgehöhlten Fassaden von Häusern sind übrig. Diese denkmalgeschützten Objekte sollen entkernt, die Fassade erhalten werden, so der Plan.

"Gated Community"

Das Viertel blickt auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück: Bis in die 1950er-Jahre lebten hier Griechen, später Kurden und Roma. Heute sind nur noch die Ärmsten hier. Auch das soll sich ändern.

Der Developer Çalik Holding, dessen CEO bis vor kurzem der Schwiegersohn des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan war, hat hier ohne Ausschreibung eine "Gated Community" für die obere Mittelklasse geplant - inklusive Shoppingcenter, Restaurants und Hotel. 278 Gebäude und insgesamt 20.000 Quadratmeter sollen erneuert werden. Ursprünglich hätte das Großprojekt bis 2010 fertiggestellt werden sollen - dem Jahr, in dem Istanbul sich als Kulturhauptstadt Europas präsentierte. Von einer Fertigstellung ist man aber nach wie vor weit entfernt.

Die Bewohner wurden 2008 vor vollendete Tatsachen gestellt, berichtet die Soziologin Özlem Ünsal. Sie hat zu den Protesten ihre Dissertation verfasst. Bei einer Tour durch das Viertel wird sie vom Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts unterbrochen. "Kann man in Österreich historische Viertel auch einfach so verändern?", fragt er kopfschüttelnd.

Drei Möglichkeiten für Bewohner

Möglich wurde das durch das Gesetz Nr. 5366 "Zur Renovierung und Instandsetzung vernachlässigter historischer und kultureller Liegenschaften". Es gibt dem Staat die Möglichkeit, Eigentümer zu enteignen, wenn sie sich dem vermeintlichen Gemeinschaftsinteresse verweigern. Drei Möglichkeiten hatten laut Ünsal die Eigentümer im Viertel: Den Verkauf des Hauses zum derzeit marktüblichen Preis an den Developer, den Tausch gegen eine Wohnung im zukünftigen Viertel mit 42 Prozent der ursprünglichen Fläche oder eine Ersatzwohnung am Stadtrand. Dieser ist aber bei einer Stadt solcher Ausmaße weit weg: 5300 Quadratkilometer hat Istanbul mittlerweile - und ist damit so groß wie Wien und das Burgenland zusammen.

Die Mieter des Tarlabasi-Viertels gingen leer aus, so Ünsal. Während sich die Eigentümer zur Wehr setzten, kamen ihnen die verunsicherten Mieter abhanden. "Daraufhin ist der Widerstand gebrochen", so Ünsal. Vor kurzem entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Vorgehen illegal war. Reichlich spät: Die Informanten der Soziologin leben schon lange nicht mehr hier. Die Bauarbeiten gehen weiter.

Leben in der Satellitenstadt

Es gibt nur wenige Alternativen für die Bewohner, die noch da sind. Für den sozialen Wohnbau ist in der Türkei seit den 1980er-Jahren Toki, die staatliche Wohnbaubehörde, zuständig. Sie ist Präsident Erdogan direkt unterstellt und baut auf Grundstücken, die dem Staat gehören. Zumindest in Istanbul ist Toki aber längst kein Synonym mehr für leistbares Wohnen, kritisiert der Stadtforscher Orhan Esen. "Toki ist heute ein Instrumentarium, mit dem der türkische Staat Geld macht", sagt er. In Istanbul produziere Toki nun für den freien Markt und widme sich der sozialen Wohnungsfrage nicht mehr.

So wird Leistbares in Istanbul zunehmend zur Mangelware: "Es gibt einen großen Bedarf an leistbaren Wohnungen von guter Qualität", sagt Eren. "Aber das, was gebaut wird, ist entweder teuer oder von schlechter Qualität - und trotzdem nicht billig." 5000 bis 10.000 Dollar koste der Quadratmeter Wohnfläche - eine Wohnung mit hundert Quadratmetern kommt so schnell auf eine Million Dollar (800.000 Euro). Die immer gleichen Wohntürme wachsen am Stadtrand stetig in den Himmel - doch öffentliche Verkehrsanbindung gibt es mitunter keine.

Keine Gewerbeflächen

Mängel gibt es auch, wenn man die Ästhetik beiseitelässt: In einer Satellitenstadt im Westen Istanbuls wurde beispielsweise bei der Planung ganz auf die Gewerbeflächen vergessen, berichtet Stadtforscher Esen. "Die haben sich dann selber entwickelt" - auf Flächen, die eigentlich als Wohnungen konzipiert gewesen wären.

Immobilienexperte Eren wünscht sich Instrumente, mit denen Bewohner über die Zukunft ihres Grätzls und ihrer Stadt mitentscheiden können. Alle großen Projekte würden von Bürgerprotesten oder legalen Streitigkeiten begleitet. Während gestritten wird, wächst Istanbul weiter - ein Ende ist nicht in Sicht. Auch die Probleme wachsen: Zunehmender Verkehr, das Fehlen von sozialen Räumen, Parks und Fußgängerzonen würden zu Unzufriedenheit führen, so Eren: "Bevölkerungswachstum und Urbanisierung zerstören die Städte." (Franziska Zoidl aus Istanbul, DER STANDARD, 25.10.2014)