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Knapp musste keine Fahne nähen, aber "dem Anlass entsprechend gekleidet" im Rathaus erscheinen.

Foto: apa/Herbert Neubauer

Dass ich Österreicher wurde, ging auf das Konto meiner Mutter. Gleich nachdem sie mich nach Wien geholt hatte, suchte sie schon hinter meinem Rücken um die österreichische Staatsbürgerschaft an. Es waren schwere Zeiten. Damals hielt man die Polen für eine Spezies, die auf ein deutsches Auto genauso reagierte wie ein Depressiver auf eine Aufhellungstablette. Meine arme Mutter musste außer Haus polnisch flüstern oder hätte sich am liebsten gleich die Taubstummensprache zugelegt, damit niemand ihren Akzent bemerkte. Um mir das zu ersparen, ging sie ins Rathaus, füllte hinter meinem Rücken ein Formular aus, das aus mir einen Österreicher machen sollte. Wie ein österreichischer Pass meinen polnischen Akzent tilgen sollte, war zwar schleierhaft, aber sie glaubte nun mal an Wunder. Irgendwann erreichten die Mühlen der Bürokratie den Buchstaben K, und ich bekam einen Brief aus dem Rathaus, in dem ich ersucht wurde, "dem Anlass entsprechend" gekleidet dort zu erscheinen. Am besagten Termin erschien ich in einem großen, holzvertäfelten Wartezimmer. Um mir die Wartezeit zu verkürzen, studierte ich die Porträts der österreichischen Präsidenten, die an der Wand aufgehängt waren. Dabei stellte ich fest, dass jeder Präsident dieselbe Krawatte trug, wodurch es so aussah, als wäre die Präsidentschaft ein Wanderpokal, die der eine dem anderen vermachte. Ferner entdeckte ich, dass die Gesichter der Politiker nach vollendetem 50. Lebensjahr sich verblüffend ähnlich sahen. Das lag bestimmt daran, dass sie von da an in denselben Restaurants verkehrten und ihre Unterkiefer vorwiegend zum Kauen eines Tafelspitzes verwendeten.

Schließlich öffnete sich die Tür, und ein kleinwüchsiger Beamter kam heraus. Er war nicht älter als 30 und hatte so gut wie keine Haare mehr, was bedeutete, dass Staatsbürgerschaftsverleihungen stressiger waren, als man dachte. Er warf mir einen kurzen prüfenden Blick zu, den er anschließend in ein Lächeln umwandelte, das ein Spektrum von zurückhaltend bis freudig überrascht abdeckte.

"Ich darf Sie begrüßen, Herr Knapp. Wenn Sie mir folgen wollen", sagte er und zeigte auf das Innere seines Büros: "Es ist nämlich unüblich, Staatsbürgerschaften in einem Vorzimmer zu verleihen." Das war als Scherz gemeint, aber irgendwie steckte darin die versteckte Aufforderung, dass ich in Galopp verfallen sollte. Wir betraten ein schön eingerichtetes Büro, an dessen Decke der österreichische Adler von der Größe einer Cesna eingearbeitet war und wo man sich instinktiv ein wenig bückte. Der Beamte nahm an seinem Schreibtisch Platz und zeigte auf den leeren Sessel, der offenbar für mich bestimmt war. "Bitte setzen Sie sich. Wir werden schon aufstehen, wenn es der Anlass erfordert. Aber vorerst bitte ..." Er machte eine interessante, aber schwer einzuordnende Handbewegung. "Darf ich annehmen, dass Sie das Deutsche beherrschen?" Ich nickte. "Wunderbar. Uns sind nämlich heute die Übersetzer ausgegangen", er zeigte auf eine verschlossene Tür zu seiner Rechten, als würde dort ein Dutzend Übersetzer eingesperrt darauf warten, gerufen zu werden. Er zog aus einer Schublade eine Mappe, die ziemlich dick war und auf die jemand auf die Schnelle mit Krakelschrift "Radek Knapp" geschrieben hatte.

"Bevor wir zur Tat schreiten, möchte ich noch kurz ein paar Daten zusammenfassen, die Sie betreffen. Korrigieren Sie mich sofort, wenn etwas nicht stimmt." Der Beamte blätterte kurz in der Mappe und vertiefte sich darin. "Sie sind mit zwölf nach Wien gekommen, haben eine geschiedene Mutter, zwei Jahre in der Handelsakademie und anschließend Gelegenheitsjobs. Ist das so weit richtig?" "Das ist so weit richtig", sagte ich. Meine Mutter war offensichtlich kooperativer als die CIA. Ich fragte mich, was sie so alles noch ausgeplaudert hat. Sie war Autoritäten gegenüber schon immer erstaunlich ergeben.

Der Beamte hatte zwar keine Haare, aber dafür konnte er Gedanken lesen. "Diese Daten, die wir gesammelt haben, sind natürlich streng vertraulich. Niemand außer mir hat Zugang. Also wenn Sie einverstanden sind, können wir jetzt zur Tat schreiten können. Sind Sie bereit?"

Bitte erheben Sie sich!

Ich nickte wieder, und es sollte mein letztes Nicken als Pole sein. "Dieses Dokument befähigt mich, Ihnen heute die österreichische Staatsbürgerschaft zu verleihen." Der Beamte hielt ein Dokument hoch. "Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass dies ein feierlicher Moment ist. Daher sind wir verpflichtet, eine kleine Zeremonie hinter uns zu bringen. Haben Sie so weit alles verstanden, oder soll ich es noch einmal langsamer wiederholen?"

"Ich kann Ihnen sehr gut folgen." "Ihr Deutsch ist wirklich ausgezeichnet. So was haben wir hier nicht oft", lobte er mich. "Dann muss ich Sie bitten, jetzt aufzustehen und mir nachzusprechen. Bitte erheben Sie sich." Ich stand auf, und er drückte diskret einen Knopf auf dem Pult, aus dem klassische Musik erklang, und begann vorzulesen: "Ich, Radek Knapp, gelobe meinem Land Österreich zu dienen, in Friedenszeiten und Krieg, meine Pflichten als Bürger wahrzunehmen und die Rechte zu schützen. So wahr mir Gott helfe."

Es war seltsam, diesem Mann zuzusehen, der sich mit meinem Namen anredete. Ich wiederholte den Satz, und er verstummte darauf mit einem feierlichen Gesichtsausdruck, damit mein Schwur sich in der Stille des Festsaals verfestigte. "Sie sind hiermit österreichischer Staatsbürger. Ich gratuliere Ihnen." Er streckte mir die Hand entgegen, die ich drückte. Sie war so klein, als würden ihm die Hälfte der Finger fehlen. "Ich bedanke mich herzlich", sagte ich, was reichlich albern klang. Es war so, als hätte man mir nicht gerade die Staatsbürgerschaft verliehen, sondern einen Gratiskrapfen geschenkt. Um diesen Dank etwas seriöser erscheinen zu lassen, fügte ich hinzu: "Ich bin verblüfft, wie schnell das über die Bühne ging. Gerade mal eine Minute? Bin ich wirklich jetzt schon österreichischer Staatsbürger?"

"Das sind Sie. Und es war weder schnell noch einfach", widersprach er. "Sie haben immerhin zehn Jahre darauf gewartet. Das ist eine Ewigkeit. Aber jetzt sind Sie in trockenen Tüchern, wie man so sagt. Ab jetzt kümmert sich der österreichische Staat um Sie."

Das hörte sich etwas zweideutig an. "Und schon geht es los", der Beamte nahm einen Umschlag aus der Schublade, auf dem die Miniatur des österreichischen Adlers abgebildet war, der die ganze Zeit über unseren Köpfen schwebte, und schob ihn zu mir hinüber: "Ein kleiner Willkommensgruß an den neuen Staatsbürger."

Da ich zu den Menschen gehöre, die in Umschlägen nur schlechte Nachrichten vorfinden, zitterte beim Öffnen meine Hand. Zu meiner Verblüffung hielt ich zwei Tickets in der Hand. "Das sind Freikarten für ein künstlerisches Highlight unserer Stadt", sagte er, "das Musical Cats." "Vielen Dank. Das ist sehr großzügig", freute ich mich. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was Cats war.

"Anfangs schenkten wir Karten für die Oper, aber das ging schief", informierte mich der Beamte. "Durch diesen Fehler klug geworden, schenken wir etwas mit mehr Pepp. Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Außerdem sind es zwei Karten. Sie können jemanden mitnehmen." "Muss die zweite Person auch ein Österreicher sein?" Er gab meiner Schulter einen kleinen Klaps. "Ich bin froh, dass wir so einen humorvollen Staatsbürger begrüßen dürfen. Humor gibt es ja hierzulande nie genug."

Dann sah er auf und fragte: "Haben Sie noch Fragen?" "Nein. Im Moment habe ich nur eine große Leere im Kopf." "Die werden wir schon füllen", er packte wieder meinen Akt zusammen und steckte ihn in die Schublade zurück. Dann breitete er die Hände aus und lächelte.

Bevor ich antworten konnte, legte er mir leicht, aber bestimmt die Hand auf den Rücken und bugsierte mich Richtung Tür. "Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn etwas unklar ist. Ich bin für jeden österreichischen Staatsbürger da. Ab heute auch für Sie. Ich gratuliere Ihnen noch mal. Und wenn Sie draußen sind, rufen Sie bitte den Nächsten."

Ich nickte und verließ sein Büro. Als ich draußen war, warteten schon zwei weitere Kandidaten auf eine Verleihung. Ein Türke und ein dunkelhäutiger Mann unbekannter Herkunft. Als sie mich erblickten, sahen sie zu mir auf, als hätte ich einen Zahnarzt verlassen, der mir gerade alle Zähne gezogen hätte. "Der Nächste soll hereinkommen", sagte ich. Die beiden Kandidaten sahen einander an, als würden sie gerne dem anderen den Vortritt überlassen. Aufgestanden war keiner. (Radek Knapp, Album, DER STANDARD, 25./26.10.2014)