René Freund, "Mein Vater, der Deserteur". € 19,50 / 206 Seiten. Deuticke-Verlag, Wien 2014

Cover: Deuticke-Verlag

Hast du einen anderen Menschen erschossen?" - Das Buch von René Freund beginnt genau mit dieser einen Frage, die unzählige Menschen der Nachkriegsgenerationen ihren Vätern und Großvätern immer stellen wollten und, wie Freund auch, es doch nie gewagt haben. "Heute ist es zu spät", schreibt der Autor weiter, "mehr als drei Jahrzehnte zu spät." Sein Vater Gerhard Freund hatte ihm nie vom Krieg erzählt, wie die allermeisten aus der Kriegsgeneration. Er starb, als der Autor zwölf war.

Aber nach den knapp über 200 Seiten Lektüre von René Freunds Mein Vater, der Deserteur ist eines zumindest ganz gewiss: dass es eben nie zu spät ist für eine Annäherung und schlussendlich für eine Art von Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Denn die Fragen, die man dem eigenen Vater vielleicht nie oder nicht mehr stellen konnte, denen stellt man sich dann eben selbst. So gesehen ist Freunds Buch das gelungene Resultat einer sehr beherzten Unternehmung.

René Freund, Jahrgang 1967, der heute als Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Grünau im oberösterreichischen Almtal lebt, nimmt die Leser an die Hand und mit auf eine Spurensuche und Reise.

Wir fahren zusammen mit dem Autor (und dessen Frau und beiden Kindern) die Kriegsschauplätze des Vaters und Großvaters Gerhard Freund ab, der erst achtzehn ist, als er 1944 doch noch zur Wehrmacht eingezogen wird und mit seiner Einheit im August an der Schlacht um Paris teilnehmen soll - und schlussendlich in Paris desertiert.

In einer Art Montagetechnik

Gerhard Freund, der spätere erste Fernsehdirektor des Österreichischen Rundfunks, hat über diese turbulente, harte Zeit ein Kriegstagebuch geschrieben, das sein Sohn René sechzig Jahre später liest und zum Anlass nimmt, der Geschichte seines länger verstorbenen Vaters nachzuforschen.

Eine Art Montagetechnik, nämlich das originale Kriegstagebuch des Vaters neben eigene Betrachtungen oder Nachforschungen aus Kriegsarchiven zu stellen, macht Freunds Buch zu einer höchst persönlichen und sehr lebendigen Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs. In Kurzkapiteln, die zwischen verschiedenen Jahreszahlen springen, insgesamt von 1916 (Verdun) bis 2011 (das Jahr, in dem Freund seine Recherchen und Schuhkartons mit den alten Fotografien wieder schließt), aber hauptsächlich zwischen 1944 (das Jahr, in dem der Vater in Frankreich aus der Wehrmacht desertierte) und 2010 (das Jahr, in dem der Autor mit der Familie die ehemaligen Kriegsschauplätze seines Vaters bereist), tauchen wir in eine von unzähligen Kriegs- und Familiengeschichten ein. Freunds Ausführungen sind aber nicht bloß interessant, weil Engelbert Dollfuß der Trauzeuge seiner Großeltern war und Leopold Figl in der Familie "Onkel Poldi" genannt wurde, besonders die Spurensuche von 2010 in Frankreich ("Nach längerem Hinsehen wird klar, dass es sich um Krater handelt, die von der schweren Artilleriemunition in den Boden geschlagen wurden. Alles hier war Kampfzone. Wir pissen auf blutgetränkten Boden") macht augenscheinlich, wie sehr wir in Europa, wie es Freunds Schriftsteller-Kollege Martin Pollack so trefflich festgestellt hat, auf Kontaminierten Landschaften leben.

Von Paris aus geht die Reise in die Vergangenheit nämlich weiter in die Normandie, an jene Strände des Ärmelkanals, an denen 1944 die westlichen Alliierten gelandet sind. Bei Freund wiederum in Form des Vaters seines ehemaligen Schwagers Franz-Olivier Giesbert, eines Journalisten, der, ähnlich wie Freund, die Erlebnisse seines Vaters in einem Buch aufgezeichnet hat (L'Americaine).

Das, was sich dem Buch, wenn überhaupt, vorwerfen lassen könnte, nämlich Anekdotisches einer Urlaubsreise neben einen schrecklichen Krieg zu stellen, wirft der Autor immer schon selbstkritisch als Frage auf und kommt aber zumindest für sich zu einer Antwort: "Wir sind, wie viele hier, Kriegstouristen. Aber nicht von Sensationsgier getrieben, sondern von dem Wunsch zu verstehen." Was sollen wir der Vergangenheit entgegenhalten, wenn nicht unser Leben? Mein Vater, der Deserteur ist ein wichtiger Beitrag, die Frage zu klären, warum die Scheu einer ganzen Generation so groß war nachzufragen, macht aber gleichzeitig Mut.

Denn die Frage "Wie hätte ich mich damals verhalten?" führt uns mit René Freund ganz direkt zu der für uns viel wichtigeren Frage: "Wie verhalte ich mich heute? Bis wohin mache ich mit, wann ist die Grenze erreicht?" (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 25./26.10.2014)