"Ich bin allein, ich stell die Aschenblume / ins Glas voll reifer Schwärze. Schwesternmund / du sprichst ein Wort, das fortlebt vor den Fenstern, / und lautlos klettert, was ich träumt, an mir empor." (Paul Celan, aus "Mohn und Gedächtnis").

Foto: Anselm Kiefer / Aschenblume / Sammlung Leopold

Im März 1960 sendet der Norddeutsche Rundfunk ein Hörspiel von Erich Fried, Izanagi und Izanami, mit Musik des ebenfalls aus Wien nach London emigrierten Hans Keller. Das Drama geht auf mythologische Erzählungen aus dem alten Japan zurück. Darin versucht der Gott Izanagi seine Schwestergattin Izanami, die bei der Geburt des Feuergottes gestorben ist, aus der Unterwelt wieder ins Leben zurückzuholen.

Das Hörspiel wurde noch einmal 1965 gesendet, danach verschwand es aus der Literatur. Vor wenigen Jahren wurde es von der Literaturwissenschafterin Christine Ivanovic im Nachlass Paul Celans im Literaturarchiv Marbach wiederentdeckt und in einer feinen Publikation veröffentlicht. Diese umfasst den Text des Hörspiels und gewährt zudem einen faszinierenden Blick in die Schreibwerkstatt des Dichters.

Warum hat der politische Dichter Fried einen Weltgründungsmythos aus einem fernen Kulturkreis verwendet, um eine Geschichte von Liebe und Verlust, von vergeblicher Suche nach Toten und einer Rückkehr ins Leben zu erzählen? Dass das Manuskript just im Nachlass Paul Celans wiederentdeckt wurde, scheint einer jener Zufälle zu sein, mit denen das Leben schwer zu formulierende Bedeutungen verrätselt.

Umgang versus Durchgang

Wie geht einer damit um, wenn zutiefst Persönliches unwiederbringlich verloren geht? Wenn einem die wichtigsten Menschen genommen wurden? "Mit etwas umgehen" setzt eine Distanz voraus, um trotz allem zu handeln. Zugleich steht infrage: Wie verändert man sich, wenn man mit einem persönlichen Verlust weiterleben muss? Trauma versus Sich-nicht-unterkriegen-Lassen? Umgang oder Durchgang: eine Weise, derselbe zu bleiben, sich zu bewahren und das Leben anzupacken, wie es eben ist. Und eine Weise "das, was geschah", sich dauerhaft vor Augen zu halten, die Veränderung, die mit einem passiert ist, nicht wegzuwischen, sondern als der, der man dadurch geworden ist, ganz anders weiterzumachen - was implizieren mag, dass man zum Einfach-so-Weitermachen nicht mehr fähig ist.

Die Frage verschärft sich, wenn der Verlust eine historische Dimension hat wie im Fall der Shoah. Wie dies öffentlich dokumentieren, das Sich-trotzdem-Bewahren oder das Verändertsein? Beides ist sichtbar geworden: das durch diese Erfahrung maximal kritisch gewordene politische Bewusstsein und das daraus resultierende Handeln - und andererseits das durch die Vergeblichkeit und Fragilität des Daseins hundertmal hinterfragte und maximal genau werdende Sprechen. Das eine war der Entschluss von Erich Fried, das andere die entschieden gelebte Unerlöstheit des Paul Celan.

1959 schickt Fried aus London ein Hörspiel nach Paris an Celan, Izanagi und Izanami, ein langes lyrisches Poem, angelehnt an den Stil des No-Theaters. Dabei verwendet Fried Legenden aus altjapanischen Chroniken, Textstellen aus No-Stücken und Sequenzen aus frühen japanischen Gedichtsammlungen, wie Christine Ivanovic auch durch Fotos von Exzerpten Frieds sehr anschaulich macht. Zum Beispiel: "Trauer hängt dir nachts / in dein Herz den blinden Spiegel, / zeigt nicht, wo du schläfst. / Nur die eignen Träume siehst du / wenn die Morgenglocke schlägt."

Übersetzen ist nicht nur eine Tätigkeit von Lyrikern, die sich anders nicht ernähren könnten, sondern auch eine psychologische Strategie, um sich, etwa im Traum, das vor Augen zu führen, was man sich oder anderen in direkter Form nicht zumuten möchte. Fried verwendet den japanischen Mythos, um einen vollkommen dem Diesseits verpflichteten Umgang mit der Tragödie des 20. Jahrhunderts zu formulieren: Izanagi flieht aus der Unterwelt, als er der verwesenden Leiche Izanamis gewahr wird - ein scheinbar total gefühlloser Tabubruch.

Dass er diesen Text gerade an Paul Celan sandte, der einen diametral entgegengesetzten Weg ging - im Bild gesprochen: zeitlebens blieb Celan in der Unterwelt -, ist entweder ein Missverständnis - Celan hat auch mit keiner einzigen Zeile reagiert - oder der monströs missglückte Versuch einer provokativen Therapie.

In ihrer Analyse verortet Ivanovic Frieds Text innerhalb der verschiedenen Versuche der Nachkriegsschriftsteller, transkulturelle Übersetzungsarbeit zu leisten. Der Text käme aus einer "Epoche, die sich nach großen Verlusten nun auch kulturell zu regenerieren versuchte und in diesem Bemühen über den etablierten abendländischen Kanon hinausgriff." Kurz, aber klar schlägt sie das Generalthema des Hörspiels an: "Es markiert einen Umschlagpunkt in der eigenen Trauerarbeit - der andauernden Trauer über die Opfer der politischen Gewalt der Nationalsozialisten."

Parallele zu Orpheus

Erich Fried entnahm dem japanischen Weltgründungsmythos vom göttlichen Geschwisterpaar absichtlich nur jenen Teil, der Parallelen zum altgriechischen Orpheus-Mythos aufweist. Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Izanagi und Izanami steigen von der hohen Brücke des Himmels herab, lassen die japanischen Inseln aus dem Urmeer auftauchen, betreten den Boden der Erde, nehmen ihn in Besitz und geben sich der Liebe hin. Doch das Kind im Mutterleib ist der Feuergott, der nicht nur bei der Geburt die eigene Mutter vernichtet, sondern, durch den Zorn Izanagis in viele Teile zerhackt, als chaotischer Feuerbrand das Leben auf der Erde unsicher macht.

Der untröstliche Izanagi möchte seine Schwestergattin wieder zum Leben erwecken, keine andere Frau kann ihn im Diesseits halten. Auf unwegsamen Pfaden und in der Einsamkeit der Bergwelt sucht er die Pforte in die Unterwelt und findet sie auch am Eingang in eine Höhle. Er steigt hinab, trifft in der Finsternis auf die tote, verlangend zu ihm sprechende Izanami und will sie sehen. Sein Sohn, der Feuergott, hilft ihm nun, und im nächsten Augenblick muss Izanagi das Vernichtungswerk des Todes erkennen: Würmer und geblähte Fäulnis ... "Dunkel, komm zurück!", ruft er. "Reiß das Bild mir aus den Augen, denn das kann nicht sein! Wo ich meine Schwester suchte, find ich nur der Würmer Fraß."

Es widert ihn an, und panisch versucht er, wieder zurück auf die Oberfläche der Erde zu entkommen. Verfolgt von Furien des Totenreichs gelingt ihm dies auch, und er wird, erschöpft und fast tot, von Holzfällern gesundgepflegt und an das Leben in seiner bescheidenen Wirklichkeit erinnert. Zwar weist er Lied und Tanz ab, da ihn das an die tote Geliebte erinnert, aber ins Totenreich zurückzukehren kommt für ihn nicht mehr infrage. Er singt ein Loblied auf das Dasein, und obwohl er, gezeichnet vom Schicksal, sich in die Einsamkeit zurückziehen wird, weiß man (oder mehr noch: spürt man), dass hier einer ins Leben zurückgekehrt ist.

Die Parallele zur Geschichte des Orpheus ist evident, doch der Unterschied ebenso: Orpheus bleibt der illusionslose Blick auf die Realität toter Organismen erspart. Fried hat sich für den japanischen Mythos entschieden, weil ihm, wie er in einer Einführung sagt, "die japanische Sage stärker und unverfälschter als die klassische Orpheussage" zu sein scheint. Fried ging es durch die Form des Hörspiels um Wirkung, um lyrische In-Formation, um ein Miterleben der Zuhörer, weniger um das, worum es ihm später ging: um ein Mitdenken des Lesers. In einfacher, volksliednaher Sprache gibt er eine präzis orchestrierte Sequenz von Bildern und Bildüberlagerungen, in die der Zuhörer gerät wie in einen Sog, der ihn erst ganz zuletzt wieder in die Wirklichkeit hinaustreibt, gleich dem panisch aus der Höhle der Toten auf die Bergrücken des Lichts und in die Tiefebenen des Lebens flüchtenden Izanagi.

Diese emotionale Re-Inszenierung einer alten, unabgeschlossenen Geschichte bleibt nicht ohne Wirkung auf den Hörer oder die Hörerin. Sehnsucht und Verzweiflung über den Verlust der Geliebten werden so ausführlich besungen, dass der Anblick ihrer Leiche den ganzen Schrecken eines solchen Moments erlebbar macht, und in der Folge die Panik der Flucht und das intensivste Überlebenwollen unmittelbar nachvollzogen werden. Im Umschlag des Geschehens, der "krisis" des Dramas, taucht etwas Kathartisches auf, etwas Lösendes, dem man sich nicht entziehen kann.

Hier gibt es natürlich auch eine starke Analogie zum altgriechischen Drama. Frieds Hörspiel ist nicht nur die Neuformulierung einer alten Theaterform aus einem anderen Kulturkreis. Ihm war es vielmehr, wie er in der Einleitung schreibt, "um eine Synthese aus japanischem und europäischem tragischen Empfinden zu tun".

Weder Fried noch Celan hatte eine Schwester, und doch ist das Motiv der Schwester in diesem Hörspiel und im Werk Celans an den verschiedensten Stellen präsent. Dabei steht sie für das ansprechbare Du, das ihn versteht, das fast mit ihm ident ist wie eine Zwillingsschwester. Aber sie steht auch für die unwiederbringlich verlorenen, ermordeten Verwandten, für die Mutter, für die Eltern, für das jüdische Volk.

Vielleicht hat Celan auch deshalb nicht auf Frieds Zusendung reagiert, weil ihn damals die leidige Plagiatsaffäre, ausgelöst durch die Witwe des Surrealisten Ivan Goll, auf das Unangenehmste in Atem hielt. Bei dem Streit ging es auch um das Motiv der sogenannten Aschenblume (auch: Aschenkraut), der Cineraria, französisch bei Yvan Goll Masques des Cendres. In dem Gedichtband Mohn und Gedächtnis, der Gedichte Celans aus den Jahren 1944-1952 vereinigt, finden sich dazu folgende Zeilen: "Ich bin allein, ich stell die Aschenblume / ins Glas voll reifer Schwärze. Schwestermund / du sprichst ein Wort, das fortlebt vor den Fenstern, / und lautlos klettert, was ich träumt, an mir empor."

Paradoxes Dasein

Im Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichts gibt es eine bedeutungsvolle Überarbeitung: statt "fortlebt" schrieb Celan ursprünglich "auslischt"! Celan entschied sich also dafür, dass das Wort der "Schwester" fortlebt in der paradoxen und schmerzlichen Form eines Daseins, das es nicht mehr gibt bzw. eines Nichtseins, das es genau als Nichtseiendes gibt. So lebt es fort, obwohl es ausgelöscht wurde.

Erich Fried hingegen fasste den heroischen Entschluss für eine entschieden dem Diesseits verpflichtete Lebensweise. Die Existenz der "Schwester" wurde ausgelöscht, und was dies für den politischen Kopf Fried bedeutete, drückte er mit der ihm eigenen strengen Prägnanz - streng auch zu sich selbst - so aus: "Viel zu gewohnt / uns vor Entrüstung zu schütteln / über die Verbrechen / der Hakenkreuzzeit // vergessen wir / unseren Vorgängern doch ein wenig / dankbar zu sein / dafür daß uns ihre Taten // immer noch helfen könnten / die ungleich größere Untat / die wir heute vorbereiten / rechtzeitig zu erkennen" ( Dankesschuld, aus: Es ist was es ist, 1983).

In dem Hörspiel ist es die Figur des Weitersagers - vergleichbar dem Waki, dem Priester/Zeugen in den No-Theaterstücken - die die Funktion von Dichtung benennt: "Ich sage es weiter, damit ihr wisst, was ihr wisst / damit ihr seht, was ihr seht; damit ihr hört, was ihr hört; damit euch die Flammen nicht blenden, die Tränen den Blick euch nicht trüben; damit euch der Rauch nicht die Augen zerbeißt."

Andenken, gedenken, in Erinnerung halten - dies war damals das Anliegen der beiden so fundamental verschiedenen Dichter. Der eine, Paul Celan, blieb im Anspruch der Aschenblume, gezeichnet vom Trauma der Schuld des Überlebthabens. Der andere, Erich Fried, ließ, was geschah, mit einer bewusst vollzogenen Wendung hinter sich. Im Hörspiel heißt es: "Die Berge sind Berge / und Berge werden sie bleiben. / Das Meer ist das Meer / und wird nie etwas andres als Meer sein. / Nur wer lebt, / der blüht auf und verwelkt / und geht durch vergängliche Tage." (Diethard Leopold, Album, DER STANDARD, 31.10./1./2.11. 2014)