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"Der Verlust einer umfassenden Artikulationsfähigkeit durch haltloses Telefonieren und übermäßigen Medienkonsum wird heute nirgends so deutlich wie auf dem Friedhof."

Foto: dpa/Daniel Fischer

Unermesslich ... Unvergesslich ... Liebe ist Leben ... Es löst der Tod nicht ... - Hat es nicht einmal Blumen gegeben, die eigens für Nachrufe in den Tintenfässern aufblühten? Der Verlust einer umfassenden Artikulationsfähigkeit durch haltloses Telefonieren und übermäßigen Medienkonsum wird heute nirgends so deutlich wie am Friedhof. Wie Steinmetzarbeiten immer einfallsloser werden, so verdorren auch die Worte.

Südtiroler Gerichtsakten belegen, dass im 17. Jahrhundert Leute am Friedhof lesen gelernt haben. Noch heute bleiben wir wie angewurzelt stehen vor barocken Grabinschriften, die in kürzester Form die Laster verdammen und einen armen Sünder mit einem sentenziösen Epigramm verabschieden. Im 19. Jahrhundert prasselte der Titel- und Besitzerstolz des Bürgertums auf den Friedhofsgeher nieder. Das hat die "Medizinalratswitwe" und den "Realitätenbesitzer" auf uns kommen lassen. Im 20. Jahrhundert haben mehr Menschen den Tod als eine unüberwindliche Grenze des Daseins akzeptiert als in jeder anderen Epoche. Symbole und Epitaphe mussten das Ableben nicht auf mehr auf verleugnende Art aufheben, sie traten mehr aus dem Intellekt und nicht aus dem Gefühl und dem Glauben hervor.

Natürlich kann man mit Bibelversen immer noch Originelles sagen. Der Sozialphilosoph Max Horkheimer ließ am jüdischen Friedhof in Bern den schlichten Vers 1 von Psalm 91, der sich dort auf der Grabplatte seines Vaters Moritz befindet, genau symmetrisch durch Vers 9 auf seinem Grab ergänzen. So kehrte der große Marxist im symbolischen Jenseits in die Familientradition zurück.

"Gewesener Riese"

Meist aber sprechen religiöse Worte auf Friedhöfen ins Leere. Der Feuilletonist Louis-Sébastian Mercier zog die Konsequenz vieler Humanisten und dichtete seinen Grabspruch selber: "Menschen aller Länder, beneidet mein Geschick: / Zur Welt gekommen als Untertan / Liegt mein Grab in einer Republik." Die Worte "Nun, o Unsterblichkeit" stehen auf Heinrich von Kleists Grabstein. Sie stammen aus den Abschiedsversen seines Prinzen Friedrich von Homburg in dem gleichnamigen Schauspiel, und zwar unmittelbar vor der Hinrichtung.

Gelegentlich blitzte auch im 19. Jahrhundert der Humor noch einmal auf. "Wandrer, zieh doch weiter, / denn Verwesung stimmt nicht heiter", dichtete der 1854 an der Cholera verfallene Niederösterreicher Ferdinand Sauter in eigener Sache. Der Riese von Lengau wiederum fürchtete vor seinem Tod 1887 nichts mehr, als dass seine Leiche verkauft werden könnte und sein außergewöhnlich langer Körper noch post mortem als Belustigungsobjekt in Varietés dienen müsse. Das Schicksal blieb ihm erspart; das 2,58 Meter lange Grab ziert ein Kreuz mit der Aufschrift: "Franz Winkelmeier, gewesener Riese".

Gewesen ist auch die Wiener Volksschauspielerin Josephine Gallmayer, die sich nach 46 Nahtoderfahrungen "armer Hund, genannte Pepi" nannte und lediglich in Anwesenheit eines Priesters und der vier Leichenträger anonym bestattet werden wollte. Die Wiener taten ihr den Gefallen gleich zweimal nicht. Bürgermeister Lueger ließ nach 22 Jahren den Sarg aus der braunen Erde wühlen, die grandiose Aufschrift "Die arme Pepi" verschwinden, und verpasste der parodistischen "Knallmeyer" ein zweites Ehrengrab, diesmal am Zentralfriedhof.

1919 wurde der bayerische Anarchist Gustav Landauer ermordet. Auf dem 1933 von Nazis zerstörten Obelisken am Münchner Waldfriedhof war Folgendes aus Landauers berühmten Aufruf zum Sozialismus von 1911 gestanden: "Es gilt jetzt, noch Opfer anderer Art zu bringen, nicht heroische, sondern stille, unscheinbare Opfer, nun für das rechte Leben ein Beispiel zu geben."

Der Zweite Weltkrieg begrub die ganze Kunst der Epitaphien, seither trauern Hinterbliebene verloren in monotonen Steinwüsten. Der Denkerin Simone Weil wird mit dem gestelzten Satz gedacht: "Ihre Schriften etablierten sie als eine der bedeutendsten modernen Philosophen."

Lediglich die Avantgarde verspürte den literarischen Verlust. Auf Kurt Schwitters' Grabstein meißelte man 1948: "Creator of Merz". Und der "Arschmaler" Friedrich Schröder-Sonnenstern, der wünschte sich am Berliner Zwölf-Apostel-Friedhof Brennnesseln am Fußende, damit er in der Ewigkeit immer warme Füße hätte, und einen Blechkranz, damit er "die Engel pinkeln hören kann". In den gemeinsamen Stein von Zelda und Francis Scott Fitzgerald ist der dramatische Schlusssatz aus The Great Gatsby gemeißelt: "So rudern wir gegen den Strom, unaufhaltsam der Vergangenheit entgegen." Der Universalgelehrte Richard Buckminster Fuller wird mit "Call Me Trimtrab" erinnert. Der Trimtrab ist ein kleiner, aber entscheidender Teil des Rudermechanismus am Schiff und am Höhenruder von Piloten. 1972 hatte Fuller dem Playboy anvertraut, dass selbst der kleine Mann mit der richtigen geistigen Bewegung das Raumschiff Erde steuern könne.

Heute lesen wir kein herzzerreißendes "Du fehlst mir!" mehr, keine Gefühlsbezeugungen überhaupt. Glänzende Granitplatten, steifer Blumenschmuck, verkrampfter Kies. Werden die Sterbenden und die Trauernden eines Tages die Sprache auf den Friedhöfen wiederfinden? Vielleicht; um neue Worte für den Schmerz zu gewinnen, müssten wir zunächst einmal die Sonnenbrillen abnehmen und die Gesichter wieder einander zuwenden.

Im September 2002 erhielt der US-Rockmusiker Warren Zevon die Diagnose Lungenkrebs. Der trinkfreudige Wüterich vom Sunset Boulevard brauchte sechs Monate, um sein Vermächtnisalbum The Wind einzuspielen. Zeitlebens ein Spötter des Todes, sang Warren nun zwei Minuten und 48 Sekunden lang ein herzergreifendes Keep Me in Your Heart für die Nachwelt, "behalte mich noch eine Weile in deinem Herzen".

Auch andere Musiker haben Passendes für ein modernes Memorial geliefert. Am Grab des Rock-'n'-Roll-Terroristen G. G. Allin in New Hampshire steht: "For my mission ends in termination / vicinity of death." Und Love Will Tear Us Apart - "Liebe wird uns auseinanderreißen" findet sich als Referenz auf das gleichnamige Lied von Joy Division auf dem Stein des 1980 verstorbenen Sängers Ian Curtis. Jeder Tote fordert sein eigenes Erinnern, und die Toten lohnen die richtigen Worte. Der Songwriter Doc Pomus bekniete zwanzig Jahre lang erfolglos Label für Label, um eine Platte mit Little Jimmy Scott zu produzieren. Als er 1991 starb und Jimmy an seinem Grab Someone to Watch Over Me sang, wurde diesem noch auf dem Friedhof der Plattenvertrag vorgelegt.

Der Tod war vieler Dichter und Denker letztes großes Wort. Warum bedienen wir uns dieser Gedanken nicht öffentlich? Ein schöner Goethe-Vers sagt: "Der Mensch erfährt, er sei auch, wer er mag, / Ein letztes Glück und einen letzten Tag." Der Italiener Giacomo Leopardi diktierte 1837 - angeblich zwei Stunden vor seinem Tod - die Zeilen: "Und für das Dunkel der Nacht, / in das alle Zeiten entweichen, / schufen die ewigen Götter das Grab zum Zeichen." Der Wiener Ur-Feuilletonist Ludwig Speidel wusste 1897: "Verloren! Das Wort ist nicht auszudenken." Müsste das nicht auf vielen Steinen stehen? Der Kritiker Lajos Hevesi notierte 1899: "Eine wirkliche Persönlichkeit ist nur einmal und nicht wieder." Jules Renard konnte sich drei Jahre vor seinem Tod 1910 seine Büste am Friedhof mit folgender Inschrift vorstellen: "Jules Renard / seine gleichgültigen Landsleute." Dann kam das Mirakeljahr 1914, und Karl Kraus lieferte ein Epitaph, das gegenwärtig in Syrien und im Nordirak brennende Aktualität besitzt: "Aber es gibt noch Verstorbene - immer seltener auch sie ..." Reißen Sie diesen Text aus der Zeitung, verwahren Sie ihn unter den persönlichen Papieren, damit Ihre Hinterbliebenen die Anregungen auf dem Weg zum Bestattungsunternehmen gleich zur Hand haben.

Zwischen zwei Nichtsen

1934 notierte der italienische Philosoph Andrea Emo: "Von Anfang an zu wissen, dass gar nichts ist ... Diese Ruhe." In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1968 verstarb Marcel Duchamp. Er hatte in seinem Testament verfügt, es solle keine Trauerfeier geben. Seine Asche wurde auf dem Cimetière Monumental de Rouen neben Familiengräbern beigesetzt. Den Text hatte er selbst entworfen: "Im übrigen sind es immer die anderen, die sterben."

Der Essayist Thaddäus Troll hat einmal einen kriegsuntauglichen Generalfeldmarschall erfunden, auf dessen Grabmal zu lesen ist: "Ich habe niemandem Furcht eingeflößt." Etwa zur selben Zeit formulierte Stings berühmter Englishman in New York, der homosexuelle Exzentriker Quentin Crisp: "Ich sehe mit aller Klarheit, dass mein Leben nur ein unkluger Sturmlauf zwischen Wiege und Grab war."

Manchmal genügt es vielleicht schon zu wissen, wie Stars die Welt sehen. Ein 81-jähriger Münchner Feinkost-Gastronom hat sich am Ostfriedhof der Stadt - im Grab seiner Eltern - bereits vorab verewigen lassen. Dort steht jetzt in Goldzügen zu lesen: "Der bayerische / Tafeldecker / Gerd Käfer / kommt einmal / hier zur Ruhe." Diese Ankündigung langte der Klatschpostille Gala im September immerhin für eine ganzseitige Abbildung. Im Internet wird heute auf 1000 Zeichen gedichtet, in Workshops wird auf Biegen und Brechen geslammt und gesimst, warum also nicht auch bei der "Großen Chance" auf dem Friedhof?

"Ihr fehlt mir, seit ich gestorben bin", könnte da stehen. Oder: "Was ich erlebt habe, fühlt sich an, als ob es für fünf Leben gereicht hätte." Oder "Zwischen zwei Nichtsen." Oder: "Stehe nicht an meinem Grab und weine; ich bin nicht da. Ich wollte nicht sterben."

Frische Verse können unseren Totenäckern nur guttun. (Wolfgang Koch, Album, DER STANDARD, 31.10./1./2.11. 2014)