Pianistin Yuja Wang haben manche als "Wunder" erlebt.

Foto: Felix Broede for DG

Wien - "Die Musik und die Wörter vertragen sich nie sehr gut miteinander, wir Kritiker wissen es besser als jeder andere. Das ist übrigens der Grund, warum wir so häufig streng sind: Es ist einfacher, die Abwesenheit von Musik zu beklagen, als ihre Anwesenheit zu würdigen. Ist diese Anwesenheit erwiesen, kann man nur schweigen."

Étienne Barilier ist kein Musikkritiker, und er hat nicht geschwiegen, nachdem er eine junge Pianistin entdeckte, die er - wie manch anderer auch - als "Wunder" erlebte. In seinem postmodern angelegten Briefroman China am Klavier heißt diese Musikerin Mei Jin und ist zur Zeit der Handlung gerade 22 Jahre alt; inspiriert ist die Figur aber von der heute 27-jährigen Yuja Wang, die soeben auch wieder in Wien gastierte.

Der französisch-schweizerische Romancier und Essayist lässt zwei Kritikerkollegen in Blogeinträgen und E-Mails gegeneinander antreten, die diametral entgegengesetzte Ansichten verfechten: Der eine, der ältere der beiden, sieht sich mit der bedeutendsten Pianistin der Gegenwart konfrontiert; der andere erkennt in ihr nur die technische Perfektion, wittert blinde, seelenlose Imitation westlicher Vorbilder und spart dabei seinerseits nicht mit rassistisch abwertenden Klischees.

Dass die beiden Kontrahenten einander von früher kennen und alte, amourös begleitete Konflikte wieder aufbrechen, bringt eine tatsächlich romanhafte Schicht hinter die ästhetischen Diskussionen, die allerdings niemals an graue Theorie anstreifen, sondern an kulturelle Fundamente rühren.

Da geht es etwa darum, was aus der Kunst des alten Europa geworden ist, warum gerade die westliche Musik in Fernost einen derartigen Boom erlebt, wie einander die Kulturen begegnen - und wie es mit gegenseitiger Wertschätzung aussieht.

Und nicht zuletzt geht es um manche große Pianisten der Vergangenheit und Gegenwart, die manchmal respektlos und immer kenntnisreich als Vergleich herhalten müssen, oder um Schwierigkeiten in der Interpretation ganz konkreter Werke wie Chopins 2. Sonate in b-Moll op. 35 (die mit dem "Trauermarsch") - allerdings in einer lustvollen Sprache, die auch dem Metier der Kritik häufiger zu wünschen wäre.

Schwungvoll und eloquent

Barilier schreibt gerade in der Knappheit seines Romans wortreich, schwungvoll und eloquent, mit manchen poetischen Sprachbildern, die in der deutschen Übersetzung allerdings zuweilen etwas ungelenk daherkommen (im Zweifel empfiehlt sich die 2011 erschienene französische Originalausgabe unter dem Titel Piano chinois). Vor allem schreibt der Autor mit einem stupendem Musikverständnis, das insbesondere aus den ersten rezensionsartigen Beiträgen des älteren Kritikers spricht. Sein Pathos sei ihm verziehen - wie gut, dass auch er nicht geschwiegen hat! (Daniel Ender, DER STANDARD, 4.11.2014)