Reinhold Mitterlehner ist ein Glücksfall für die ÖVP. Das scheint auch die ÖVP so zu sehen: 99,1 Prozent für den neuen Obmann. Von 450 Delegierten stimmten am Samstag beim Parteitag nur vier gegen Mitterlehner. Im Nachhinein muss sich die ÖVP fragen: Warum nicht gleich Mitterlehner? Die Partei stünde jetzt wohl besser da, hätte sie sich Wilhelm Molterer oder Michael Spindelegger als Obmann erspart.

Spindelegger sind genügend Steine nachgeworfen worden, aber man muss ihm zumindest zugutehalten, dass er einen sauberen Schnitt gemacht und seinen Abschied mit Würde vollzogen hat. Seine Anständigkeit war ja nie das Problem. Dass er jetzt nichts mehr mit der Politik zu tun haben mag, lässt sich gut nachvollziehen.

Die zuletzt verheerenden Umfragewerte der ÖVP verleihen dem neuen Chef jedenfalls genug Spielraum, um mit Schwung eine Aufwärtsbewegung in Angriff nehmen zu können. Mitterlehner tut das selbstbewusst und ohne wadlbeißerische Aggressivität. Er meldet jetzt den Kanzleranspruch an, ohne die Koalition mit der SPÖ infrage zu stellen. Bis 2018, dann findet regulär die nächste Nationalratswahl statt, müssen die beiden durchhalten - und sie werden das nur durchstehen, wenn sie gemeinsam arbeiten und sich nicht gegenseitig bekriegen. Der Feind steht woanders, er steht weit rechts außen. Der zynischen Menschenfeindlichkeit und dem hässlichen Pöbelpopulismus der FPÖ müssen sie gemeinsam etwas entgegensetzen.

Beim schwarzen Parteitag wurde vorerst aber ein anderer, weit kleinerer und harmloserer Feind dingfest gemacht: Die Neos und ihr Chef Matthias Strolz wurden höhnisch vorgeführt. Es ist nicht unbedingt ein Zeichen von Stärke, auf jemanden, der sich selbst schon wehrlos auf den Boden gelegt hat, hinzutreten. Die Auseinandersetzung mit den Neos zeigt aber, dass Mitterlehner durchaus erkannt hat, wo er noch eine Flanke offen hat. Die ÖVP setzt zu sehr auf ihre traditionellen Werte und hat es zuletzt verabsäumt, sich zu öffnen und den gesellschaftlichen Entwicklungen und Gegebenheiten, die außerhalb ihrer heilen Welt stattfinden, Rechnung zu tragen.

Mitterlehner versucht eine zarte Kurskorrektur, er will die Partei etwas liberaler positionieren, ohne dabei die Grundwerte zu verraten, die man mit Eigentum, Eigenverantwortung und Leistung umschreiben könnte. Das muss man nicht mögen, aber das ist die ÖVP, und dafür wird sie gewählt. Und es sind klare Gegenpositionen zur SPÖ. Ein Umdenken ist jedenfalls in der Bildungspolitik und in der engen Definition von Familie notwendig, das hat Mitterlehner erkannt - jetzt muss er noch einen Großteil der Parteifunktionäre mit auf diese Reise nehmen.

Der SPÖ wird es guttun, wieder einen Koalitionspartner zu haben, mit dem sie auf Augenhöhe kommunizieren kann. Auch sie wird sich aus den ideologischen Schützengräben herausbewegen müssen. Dass die beiden Koalitionsparteien unterschiedliche Positionen haben, ist gut und richtig, dennoch müssen sie zu brauchbaren und spürbaren Ergebnissen für das Land und die Leute kommen.

Viel hängt jetzt vom Gelingen einer Steuerreform ab. Da geht es letztendlich nicht um die Details, bei denen beide Parteien von ihren Befestigungen werden abrücken müssen, sondern um das große Gesamtergebnis. Ist das nicht überzeugend, sind beide Parteien gescheitert. Gemeinsam, aber auch jede für sich selbst. (Michael Völker, DER STANDARD, 10.11.2014)