Die Wahl des Europäischen Parlaments und die Bestellung Jean-Claude Junckers und seiner Kommission waren Schritte in Richtung eines parlamentarischen europäischen Bundesstaates. Bei der Wahl des Parlaments hatten die großen Parteien sich von vornherein auf Personen festgelegt, von denen eine im Fall des Gewinnes der relativen Mandatsmehrheit zum Präsidenten der Kommission gewählt werden soll. Und obwohl das Nominierungsrecht des Europäischen Rates - also der Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten - weiter besteht, blieb Merkel, Hollande und Co nichts anderes übrig, als das Votum der Parlamentswahl zu akzeptieren: Die direkte Wahl des Parlaments wurde so zur indirekten Wahl des Kommissionspräsidenten.

So anders ist es im Mutterland des Parlamentarismus auch nicht. Auch im Vereinigten Königreich wird der Regierungschef nicht direkt gewählt, aber alle wissen, dass die Wahl der einzelnen Abgeordneten auch - indirekt - die Wahl des Premiers ist. Die EU ist im Jahr 2014 einem parlamentarischen System sehr ähnlich geworden, und das Gerede vom "Demokratiedefizit" ist widerlegt.

Im Hintergrund stand eine Koalition der (konservativ-christdemokratischen) Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten. Dieses informelle Bündnis hielt auch der Versuchung stand, die Wahl Junckers an bestimmte inhaltliche Bedingungen zu knüpfen. Am Ende wurde vom Europäischen Parlament eine Kommission gewählt, deren Zusammensetzung in klarer Verbindung mit der Parlamentswahl steht.

Juncker hat damit eine höhere Legitimation als seine Vorgänger im Amt des faktischen Regierungschefs der EU. Und er macht deutlich, dass er dies für ein entschiedenes Auftreten nützen will. So hat er - wenige Tage nach seinem Amtsantritt - bereits den britischen und den italienischen Regierungschef herausgefordert, weil diese sich auf das altgewohnte Spiel einlassen wollten, in Brüssel das eine und zu Hause das andere zu sagen. Diese Art von national gefärbtem Populismus will die neue Kommission offenbar nicht mehr einfach hinnehmen.

Juncker hat damit auch deutlich gemacht, wen er als Gegenspieler auf dem Weg in eine vertiefte Union sieht: die nationalen Regierungen, die - besorgt um ihre eigenen Kompetenzen - keinen starken Kommissionspräsidenten dulden wollen. In diesem Konflikt wird sich die Zukunft der Union entscheiden - im Aufeinanderprallen der im EU-Rat agierenden 28 Regierungen und einer Kommission, die weiß, dass sie sich gegen diese Regierungen durchzusetzen hat. Dass die Kommission sich dabei auf ein selbstbewusstes Parlament stützen kann, macht die Konfliktlinie deutlich: Es zeichnet sich eine Allianz aus Parlament und Kommission gegen den Rat ab.

Parlament und Kommission müssen sich, will die EU eine stärkere Rolle spielen, gegen den Rat durchsetzen. Wer "mehr Europa" will - von der Finanz- bis zur Außenpolitik, muss die EU-Organe stärken; und das heißt immer auch, die Rolle der Mitgliedsstaaten zurückzudrängen.

Das muss auf Widerstand stoßen. Mitgliedsstaaten sehen Steuerprivilegien in Gefahr, die sie einsetzen, um ihren - nationalen - Wirtschaftsstandort zu fördern, auf Kosten der anderen europäischen Standorte. Und die "Großen" - allen voran die Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien - sehen sich in ihrer Rolle als weltpolitische Akteure bedroht, wenn die EU mit der schon im Vertrag von Maastricht verankerten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ernst macht.

Widerstand gibt es auch von den Rändern des politischen Spektrums. Rechts der Mitte rufen nationalistische Parteien dazu auf, die Souveränität der einzelnen Staaten zu retten - als ob dies im Zeitalter der Globalisierung ein überzeugendes Programm sein könnte. Und linkssozialistische Parteien halten der EU vor, den "Neoliberalismus" hochzuhalten - also ob Griechenland oder auch Österreich bessere Chancen hätten, außerhalb der Union für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

Die EU ist der beste Beweis dafür, dass Europa aus der Geschichte gelernt hat. Nach den Katastrophen, die Nationalismen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über den Kontinent und die Welt gebracht haben, ist es ihr gelungen, den Ungeist des Nationalismus zu bändigen, zu zivilisieren. Die Union ist die Antithese zum Europa von gestern - zum Europa der Diktatoren Hitler, Mussolini, Franco und, in ihrer demokratischen Verankerung, auch zum Europa Lenins und Stalins.

Die Vertiefung Europas ist noch nicht an einem logischen Endpunkt angelangt. Aber die Wahl des Europäischen Parlaments und der Kommission war ein wichtiger Etappenerfolg. Die nächsten Herausforderungen sind schon da: die britische Austrittsdrohung etwa oder die sich abzeichnenden Erfolge der Separatisten in den verschiedenen Staaten. Das alles steht zumindest latent im Widerspruch zur Grundregel des Einigungsprozesses: Es geht um die Aufhebung von Grenzen - und nicht um die Errichtung neuer Grenzen.

Von Willy Brandt stammt der Kommentar zur deutschen Einigung, dass zusammenwächst, was zusammengehört. Dass dies auch für Europa gilt, davon ist Juncker offensichtlich fest überzeugt. (Anton Pelinka, DER STANDARD, 18.11.2014)