Daniel Schreiber, "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück". € 10,30 / 159 Seiten. Hanser-Verlag, Berlin 2014

cover: Hanser-Verlag

Nüchtern ist nicht nur ein guter Titel für ein wichtiges Buch, sondern nüchtern sind auch die Haltungen des Autors und schließlich sein Befund zum Thema Trinken. Daniel Schreibers ernüchternder Befund spiegelt sich in Sätzen wie "Der Trinker trinkt, weil er abhängig ist", "Selbstbetrug ist eine geradezu kosmische Kraft" oder "Abhängigkeit ist eine Krankheit, die einem sagt, dass man sie nicht hat. Einem selbst und allen anderen" wider.

So klar hingeschrieben besitzt das eine Wucht. Und auch eine Glaubwürdigkeit, weil Schreibers Buch unter anderem davon handelt, wie er sich selbst "Schicht um Schicht" aus dieser Selbsttäuschung löst, unter anderem mithilfe von Psychoanalyse und der Anonymen Alkoholiker, deren wirkungsvolle Dynamiken er beschreibt, obwohl er dafür die Tradition dieser "Anonymität" gebrochen hat. "Die meisten Abhängigen, die aufhören wollen, konzentrieren sich lange auf das letzte Glas, das sie trinken werden", weiß der Buchautor. "Wenn man zu Treffen dieser Gruppen geht, versteht man intuitiv, dass das ein falscher Plan ist. Dass nur der Plan, jenes erste Glas nicht zu trinken, funktionieren kann."

Trotzdem ein Wunder, dass dieses Buch über ein doch stark stigmatisiertes Thema so viel Echo hervorgerufen hat. Schreiber, der zuvor, in den Jahren, in denen er in New York lebte, eine Susan- Sontag-Biografie geschrieben hat, schildert diesen Prozess nicht nur authentisch, sondern trifft genau den richtigen Ton. Wir hören hier einen neuen Sound einer - ja, doch - Betroffenheitsprosa (Nüchtern hätte nicht geschrieben werden können, wenn der Autor sich nicht als Alkoholiker geoutet hätte), aber ganz ohne den sonst oft schalen Beigeschmack solcher Bücher.

Schreiber will niemanden bewerten, belehren oder bekehren. Er, Jahrgang 1977, also gerade einmal 36 Jahre alt, legt nur seinen Finger auf die wunden Punkte einer alkoholabhängigen Gesellschaft, deren Ausmaße in Deutschland 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung erreicht haben. Die davon vielfach mitbetroffenen Familienangehörigen, Verwandten und Freunde nicht mitgerechnet. Für Österreich darf Schlimmeres vermutet werden. EU-weit liegen wir hierzulande an der Spitze des Pro-Kopf-Konsums. Sehr unaufgeregt erklärt der Journalist Schreiber die Dynamiken und Mechanismen und wie eng die Verbindung zwischen Arbeit und Trinken heute geworden ist. "Es gibt kein besseres Mittel gegen Stress", stellt Schreiber wieder nüchtern fest. Arbeitsbelastungen, Konkurrenzdruck, fehlende Perspektiven - der Alkohol ist ein Meister beim Reduzieren negativer Gefühle.

Für Betrunkene gibt es eine ausgesprochene Toleranz. "Interessanterweise werden die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft gegenüber der Alkoholabhängigkeit herrschen, eher auf den Nüchternen angewendet denn auf die Legionen aktiver Alkoholiker", zu dieser These kommt Schreiber gegen Ende seines 150-Seiten-Essays. Daniel Schreiber, heute noch immer dankbar, jenes erste Glas nicht mehr zu trinken, hat das alles gerade selbst erlebt: Der nüchterne Alkoholiker sticht absurderweise oft mehr heraus als der Betrunkene. Mit seinem sympathischen Buch hat er dazu beigetragen, dass das nicht unbedingt so bleiben muss. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 22./23.11.2014)