Ob man sich für Das letzte Abendmahl Überstunden aufschreiben durfte? Während der regulären Arbeitszeit blieb den Bergleuten von Wieliczka, einer Stadt zehn Kilometer südöstlich von Krakau, bestimmt keine Zeit dafür. Vermutlich mussten sie ihre Freizeit opfern, um tief unter der Erde alte Abraumkammern in Kapellen zu verwandeln, Altäre und Heiligenstatuen aus Steinsalz zu hauen oder Reliefs wie "Das letzte Abendmahl" in Stollenwände zu schnitzen.

In den Jahren 1936 bis 1945 schuf der polnische Minenarbeiter Antoni Wyrodek eine aufwändige Kopie von Leonardo da Vincis "Das letzte Abendmahl" aus Steinsalz.
Foto: Nicole Quint

Die Polen waren eben schon immer erzkatholisch - auch unter Tage. Damit sie zum Beten nicht extra nach oben fahren mussten, schufen die Kumpel unterirdische Gebetsräume, die sie zunächst mit hölzernen Kreuzen und Statuen dekorierten. Nach einem verheerenden Brand verbot die Bergwerksleitung alle leicht brennbaren Gegenstände. Die Stunde der Salzbildhauer hatte geschlagen. Wird schon recht grob geraten sein, was sich die Bergmänner da zusammengehauen haben. Feingefühl und Kunstsinn traut man Kumpels jedenfalls nicht zu, die im Schein der Talglampen durch Flöze krochen.

Ein Gewirr an Gängen

300 Kilometer Stollenlabyrinth, verteilt auf neun Sohlen, schlugen sie aus dem Gestein und gruben sich bis in eine maximale Tiefe von 325 Metern. Ihren Arbeitsplatz erreichten sie über in Stein gehauene schmale Stiegen oder per "Todesfahrt". So genannt, weil die Männer in den Schlingen eines Seils sitzend in die Tiefe gelassen wurden, immer in Gefahr, abzustürzen oder gegen den Fels zu schlagen.

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Auch die Luster sind aus Salz.

Komfortabler gelangen heutige Besucher des Bergwerks in die Tiefe. Bis auf 135 Meter steigen sie stabile Holztreppen hinunter und durch ein Gewirr an Gängen, vorbei an Galerien und gewaltigen Stützgewölben. Wer unterwegs die dekorativen Elemente aus schimmerndem Salz zu sehr bewundert oder auffallend lange bestaunt, den mahnt der Bergwerksführer: "Bitte nicht abschlecken!" Bei einer Million Besucher im Jahr reicht die Fantasie, um sich vorzustellen, wie viele den Schlecktest bereits gemacht haben. Eine unbeleckte Stelle ließe sich aber durchaus finden, denn die riesige Anlage erstreckt sich weit über Wieliczkas Stadtgrenzen hinaus.

Wälder unter Tage

Auf alten Karten sind mehr als 2000 Abbaukammern eingezeichnet, jede einzelne davon musste abgestützt werden. Ganze Wälder haben Zimmerer hier unten verbaut. Das Holzgerüst der Michalowice-Kammer etwa ragt 35 Meter in die Höhe und gleicht mit seinen Säulen und Galerien den Strebwerken gotischer Kathedralen. Jeder Besucher wird hier klein, still und auch ein wenig fromm. Von dieser Mine mit ihren Kristallgrotten, Kapellen und smaragdfarbenen Salzseen geht eine märchenhafte Kraft aus.

Märchenhaft ist auch die Geschichte dazu: Mitte des 13. Jahrhunderts wählt sich der polnische Herzog Boleslaw die ungarische Königstochter Kunigunde - polnisch: Kinga - zur Braut und lässt durchblicken, dass ihm Salz als Mitgift sehr willkommen sei. Kunigunde bringt tatsächlich eine Salzmine in die Ehe ein, allerdings liegt die dummerweise in Ungarn. Also wirft sie ihren Verlobungsring in die ungarische Salzgrube, heiratet und lässt in der neuen Heimat einen Schacht graben.

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Königin Kinga in Salz verewigt.

Das Gestein, das die Arbeiter in Polen nach oben fördern, entpuppt sich als Salzkristall und birgt, oh Wunder, den Ring. Weil es die Wieliczka-Mine demnach ohne Kunigunde nicht gäbe, widmeten die Bergleute ihr eine der alten Abbaukammern - die Kathedrale der Kunigunde. 101 Meter unter der Erde. Cremiges Licht fällt auf glitzernde Wände und Decken - alle aus Salz, auch der Boden, der von vielen Schritten blankpoliert wurde und glänzt wie edle Marmorfliesen. Selbst die riesigen Kronleuchter sind aus Salzkristall.

10.000 Kubikmeter Gestein hoben Bergmänner hier aus. 54 Meter lang, 17 Meter breit und zwölf Meter hoch ist die Halle. Wen die Salzsteinfiguren auf dem Weg hierhin noch nicht von der Kunstfertigkeit der Kumpel überzeugt haben, der leistet beim Anblick von Salzkanzel, Salzaltären und Salzstatuen Abbitte. Die meisten Werke stammen von den Brüdern Józef und Tomasz Markowski und von Antoni Wyrodek - alle drei Bergmänner.

Biografie aus Salz

Die Mühsal, der Dreck und die Gefahren der Minenarbeit sind in der Kathedrale unsichtbar. Aus dem Ort der Maloche entstand ein Ort der Ruhe und Einkehr. Kunigunde blickt anmutig vom Hochaltar, und Salzreliefs mit biblischen Motiven zeigen Stationen im Leben Jesu - die Krippe in Bethlehem, die Flucht nach Ägypten, die Hochzeit zu Kanaan oder die Auferstehung. Wyrodeks Meisterwerk aber ist die originalgetreue Nachbildung von Leonardo da Vincis "Das letzte Abendmahl".

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Die Flucht nach Ägypten

Mit der Arbeit "Der ungläubige Thomas" aus dem Jahr 1963 galt Kunigundes Kathedrale als vollendet. Platz für ein salziges Abbild von Papst Johannes Paul II. fand sich auch, nachdem er Kunigunde im Jahr 1999 heiligsprach. Nicht etwa, weil sie Polens oberste Salzlieferantin war, sondern weil sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte und es auch während ihrer Ehe mit Boleslaw nicht brach.

Polens ältester Betrieb

1978 setzte die Unesco das Bergwerk auf die Liste des Weltkulturerbes. Mehr als 700 Jahre hatte man die Mine ausgebeutet, Polens ältestes Unternehmen war ununterbrochen seit dem 13. Jahrhundert in Betrieb. Erst 1996 wurde die Salzförderung ganz eingestellt. "Szczęść Boże!" - "Glückauf!" wünscht man heute nur noch den Kurgästen in Wieliczka. Die schwören auf die außergewöhnliche Reinheit der Bergwerksluft und ihre heilende Wirkung auf Atemwegs- und Hauterkrankungen. Ein Klima wie am Meer soll dort unten herrschen. Täglich fahren Patienten in den Berg ein, um in 135 Meter Tiefe Heilmassagen zu genießen, Gymnastik zu machen und neue Atemtechniken zu erlernen. Und damit das alles auch ganz sicher hilft, kann man vor Ort gleich die heilige Kunigunde um Beistand bitten. (Nicole Quint, DER STANDARD, 29.11.2014)