13,8 Milliarden Jahre in 13,8 Minuten: Komponist Rudolf Wakolbinger hat die Entstehung des Universums vertont.

foto: stefan schlögl

Die Klanginstallation war von Anfang Oktober an in der Grazer Pfarrkirche St. Andrä zu hören. Per Knopfdruck rauschten die Galaxien durchs Kirchenschiff.

foto: stefan schlögl

Das Kirchenpersonal musste das akustische Aufeinandertreffen von Wissenschaft und Glaubenslehre zur Kenntnis nehmen.

foto: stefan schlögl

216 Lautsprecherboxen schufen einen dreidimensionalen Klangraum.

foto: stefan schlögl

Jede Box hatte einen speziellen Bereich des Alls abzudecken. 100 MP3-Player waren im Einsatz.

foto: stefan schlögl

Rudolf Wakolbinger mit einem Schnipsel seiner Partitur. Gut lesbar ausgedruckt wäre sie 240 Quadratmeter groß.

foto: stefan schlögl

Aus dem Nichts erhebt sich ein Tosen, ein düsteres Raunen, das von ein paar kecken Geigen-Pizzicati umschwirrt wird. Oder werkelt da einer mit der Flex an einer metallenen Klangsäule? Langsam tritt aus dem Grollen ein Wimmern hervor, das um einen herummetastasiert. Von oben, von vorn, überall. In einem wirren Tremolo schrappt Eisen auf Eisen, wir halten bei fünf Minuten, 21 Sekunden, gerade machen sich die Galaxien daran, zu entstehen. Kein einfacher Job, wie man hört.

Nicht viel einfacher war die Aufgabe, die sich Rudolf Wakolbinger, der Komponist dieser Klangskulptur, auferlegt hat.

Vor drei Jahren machte er sich daran, die Entstehung des Weltalls zu vertonen. Vom Urknall bis zur Gegenwart, 13,8 Milliarden Jahre in 13,8 Minuten. Herausgekommen ist mit Expansion of the Universe ein gewaltiges Stück zeitgenössischer Musik, eine 240 Quadratmeter große Partitur mit 1036 Stimmen und 1,6 Millionen Notenzeichen. Das klingt nach: Größenwahn. Was das Letzte ist, was man dem 31-Jährigen nachsagen kann.

Nicht, wenn er so in seiner Klause, einer winzigen Wohnung in Wien-Landstraße sitzt, und Sätze sagt wie: "Meine größte Sorge war, dass das wie futuristischer Mist klingt. Es sind doch viele Noten." Mit 14 Jahren hat Wakolbinger, ein etwas schüchterner, papierener Typ, der früher wohl als Poète maudit durchgegangen wäre, zu komponieren begonnen, was ihm in seiner Heimatstadt Braunau den Rang eines Außenseiters bescherte – freundlich formuliert.

Wie geht das, das Weltall vertonen?

Die HTL hat er widerwillig, aber mit Auszeichnung abgeschlossen. Dann ging er nach Wien, studierte Komposition und kippte in den zeitgenössischen Kanon. Sein Säulenheiliger ist dennoch kein Neutöner, sondern Johann Sebastian Bach. "Vor ihm war nichts, danach alles", sagt er und blickt auf einen Papierstapel. Tabellen, Formeln, Notenblätter, auf denen schwarze Punkte nur so wuseln.

Knallharte Journalistenfrage: Wie geht das, das All vertonen? Die Antwort dauert eine Stunde, drei Zigaretten, einen halben Guglhupf und lautet verkürzt: Es bedarf viel Mathematik und Kompositionsarbeit, etwas Astrophysik und der Bereitschaft, unzählige Nächte vor drei Computerbildschirmen zu verbringen.

1200 Klangschattierungen

Zuerst nahm Wakolbinger 253 Mikrowellenfotos der US-Raumfahrtbehörde Nasa, mit denen die Entstehung des Alls kartografiert wurde, und definierte auf jeder 1036 Lichtpunkte. Wo Licht ist, da ist auch Farbe, die eine bestimmte Frequenz hat – so, wie jeder Ton eine eigene Frequenz hat. Jeden Lichtpunkt in einen Ton zu übersetzen wäre dem Tüftler aber zu simpel gewesen. Also ordnete er jedem Ton durch Klangverschiebung 100 Über- und Untertöne zu. Bei einer Oktave mit zwölf Tönen ergibt das 1200 Schattierungen – eine riesige mikrotonale Palette.

Dazu kam noch die Kleinigkeit, dass sich das Universum ja nicht linear, sondern mit unterschiedlichen Tempi ausdehnte. Wie hier die Friedmann-Gleichung, ein Monster von einer Formel, half, ist aber eher Porno für Astrophysiker. Das Ganze dengelte er mit einem von ihm entwickelten System zusammen, vertonte das Stück mit 128 Instrumenten aus einer 90er-Jahre-Midifile-Sammlung und über trug alles in einen dreidimensionalen akustischen Raum.

Gleichzeitig reduzierte er die 13,8 Milliarden Jahre auf ein konsumierbares Format. "Aber das war einfach", sagt der Komponist und grinst. Frei übersetzt lautet seine Erklärung: Wenn ein Leierkastenspieler für eine Drehung an der Kurbel 13,8 Milliarden Jahre braucht, dann hat Wakolbinger eben schneller gedreht – sehr viel schneller. Bei ihm ist eine Drehung in 13,8 Minuten vorüber. Von seinem Griff nach der Kurbel hat er übrigens nie jemandem erzählt, außer ein paar guten Freunden. "Man hätte mich für verrückt erklärt". Nur seine Kumpel nicht.

Klang, Kosmos, Kunstpfarrer

Die meinten schon lange, dass das Riesenwerk ein großes Publikum braucht. Rudolf Wakolbinger ist eher keiner, der das große Publikum sucht. Er half lieber im Hintergrund mit und schraubte am Klangkosmos – bis sich die Idee zu einem Projekt aufschaukelte, Freunde von Freunden ein Soundkonzept entwarfen, die Eltern eigens entworfene Boxen zusammenbauten – und schließlich nach vielem Klinkenputzen ausgerechnet ein Priester in Graz das Kirchentor aufstieß und dem Universum eine Bleibe bot. Hermann Glettler, dem "Kunstpfarrer" von St. Andrä, gefiel die Idee von der Symbiose von Wissenschaft und Glaube.

Anfang Oktober wurde dem Gottesmann eine Menge Technik ins Kirchenschiff gehängt: 216 Lautsprecher, die von 100 MP3-Playern angesteuert wurden. Vier Tage vor der Premiere war das Stück fertig. "Ich hatte keine Ahnung, wie es klingt", sagt Wakolbinger, der sich während der Uraufführung hinterm Beichtstuhl versteckte.

Danach und bis Mitte November konnten Besucher die Klanginstallation per Knopfdruck starten. Die Kirche hörte in der Zeit quasi nicht mehr auf zu klingen, gab den Resonanzraum für eine Reise durch Raum und Zeit, die nach 13,8 Minuten abrupt endet. In den letzten Tönen, die sich in den Rundbögen verfangen, hallt irgendwo die Entstehung der menschlichen Zivilisation nach. Und dann ist es still. (Stefan Schlögl, DER STANDARD, 6./7./8.12.2014)