Aktivismus hat Hochblüte. Netzneutralität soll also das "Grundrecht" der Zukunft sein. Auf den ersten Blick sagen wir alle: Ja klar, gerne. Wir alle stehen für ein offenes Internet, in dem - wie es etwa das Europäische Parlament zuletzt formulierte - der gesamte Internetverkehr ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Beeinträchtigung und unabhängig von Absender, Empfänger, Art, Inhalt, Gerät, Dienst oder Anwendung gleich behandelt wird.

Nach Ansicht der großen Internetkonzerne wie Google, Microsoft und Co sind vor allem die Telekombetreiber aufgerufen, das sicherzustellen. Sie agieren dabei durchaus eigennützig, auch wenn man dem Konzept objektiv wenig entgegenhalten kann. Selbstverständlich soll der Kunde entscheiden, was er nutzen möchte.

Doch wie neutral ist denn das Internet heute? Ist der Kunde heute wirklich komplett frei, den konsumierten Inhalt im Internet zu bestimmen?

Wenn wir das aktivistische Gedankengut ernst nehmen, dann lautet die Antwort wohl Nein, wie nachfolgende Beispiele zeigen:

Endlich haben Sie Ihr neues Samsung-Smartphone erhalten. Voller Vorfreude legen Sie die Nano-SIM ein, starten das Gerät und mühen sich durch den Einrichtungsprozess des Betriebssystems Android. Was erkennen Sie? Ohne Gmail-Account wird das nur der halbe Spaß. Wieso darf mein Endgerät oder dessen Betriebssystem bestimmen, bei wem ich meine E-Mail-Dienste beziehe, und mich andernfalls mit Inhaltsentzug bestrafen? Ist das neutral?

Ist das neutral?

Apple rüstet seine iPad Air 2 mit integrierter SIM-Karte aus. Der Nutzer kann damit aus einer Anzahl an befristeten Verträgen auswählen und sich jenen aussuchen, der am besten zu den eigenen Bedürfnissen passt, so das Unternehmen. Klingt gut, nur bestimmt dann Apple, welche Telekombetreiber dem Kunden zur Wahl stehen? Wenn wir die bekannten Exklusivitätsvereinbarungen von Apple mit Telekombetreibern bedenken, ist auch klar, welche Beschränkungen die Kunden erwarten, wenn ihr Betreiber keinen "Exklusivvertrag" mit Apple hat. Ist das neutral?

Auch wird das neutralste Internet den Entwicklern in jungen Start-up-Unternehmen nicht helfen, wenn Apple oder Android die Aufnahme ihrer Apps in den jeweiligen Store verweigert. Ist das neutral?

Und ist das ein Problem?

Warum kann ich auf meinem Windows Phone kein IOS als Betriebssystem installieren? Warum finde ich Netflix auf meinem Apple TV, aber nicht Maxdome? Auch nicht wirklich neutral. Sie meinen, das sind nicht die Beispiele, die Sie bisher unter Netzneutralität verstanden haben? Sie haben recht, aber auch diese - vielfältig erweiterbaren - Beispiele haben eines gemein: Sie alle sind gar nicht neutral! Und ist das ein Problem?

Natürlich ist diese Entwicklung per se kein Problem. Aber es gibt problematische Praktiken, die aufgrund der globalen Dominanz der Gerätehersteller und Internetanbieter entstehen können bzw. bereits entstanden sind. Wenn wir also Netzneutralität diskutieren, dann müssen wir im selben Atemzug eben auch über Inhalteneutralität oder Geräteneutralität diskutieren. Oder: Wer A sagt, muss auch B sagen.

Derzeit können die durchwegs amerikanisch dominierten Internetanbieter durch eine geschickte Lobby die Diskussion der Netzneutralität erfolgreich ausschließlich im Gebiet der Telekomanbieter verorten. Ist diese eindimensionale Strategie erfolgreich, haben wir vielleicht langfristig neutrale Telekombetreiber, aber die Gerätehersteller oder die Inhalteanbieter bestimmen, in welchen exklusiven Netzen ihre Kun- den welche exklusiven Inhalte beziehen. Die Neutralität der Netze wird der Innovation im Internet dann nicht mehr helfen können.

Aber: Das ist keine Brandrede für Regulierung! Nicht alles, was im ersten Moment als Problem erscheint, bedarf einer Regulierung. Neutralität in diesem Sinne ist natürlich kein neues Grundrecht. Das Recht auf freie Meinungsäußerung oder das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind Grundrechte, die möglicherweise in dieser Diskussion gestreift werden.

Tatsächlich ist die Regulierung der Netzneutralität nichts anderes als eine ordnungspolitische Intervention, weil möglicherweise der Wettbewerb in gewissen Bereichen versagt. Wenn aber, dann muss man einen vollständigen Blick auf den Gesamtmarkt im Internet werfen, sonst regulieren wir bloß eine Wertschöpfungsebene - die europäischen Telekomanbieter - zu Tode. (Michael Seitlinger, DER STANDARD, 2.12.2014)