Rupert Kerschbaum, Leiter des Uhrenmuseums in Wien, zeigt uns, wo die Zeit wohnt. In seiner Werkstatt und Bibliothek scheint sie aber stehengeblieben zu sein. Wojciech Czaja erfragte, warum die Uhren nicht ticken.

"Der hübsche Zeitzeuge neben mir ist eine der Uhren vom Südbahnhof. Sie ist im Warteraum vor den Bahnsteigen der Südbahn gehangen, handgemaltes Zifferblatt, und es gibt noch schöne, atmosphärische Fotografien mit dieser Uhr und auf den Zug wartenden Passagieren untendrunter. Diese Uhr zeigt nicht nur die Zeit an, was sie derzeit nicht tut, weil sie nicht geht, sondern auch das Kommen und Gehen der Zeit - und dass einige Dinge auch einmal vergehen und dann für immer weg sind.

"Ab und zu ist es gut, die Zeit zu vergessen, sie nicht zu messen und sie einfach nur zu genießen." Rupert Kerschbaum, umgeben von stehengebliebener Zeit. (Bildansicht durch Klicken vergrößern)
Foto: Lisi Specht

Ich bin hier permanent von Zeit umgeben. Ich mag Zeit, ich mag es, Zeit zu haben, und daher mag ich es auch, Uhren zu haben. Eine praktische Konsequenz dieser omnipräsenten Größe Zeit ist, dass ich ein überaus pünktlicher Mensch bin. Ich bin immer pünktlich, auch dann, wenn ich nicht auf die Uhr schaue, denn ich habe eine Art eingebaute, innere Uhr. Wenn ich mich abends ins Bett lege, dann stelle ich mir ein großes, rundes Zifferblatt vor und stelle mir den mentalen Weckzeiger auf die gewünschte Uhrzeit am Morgen, und ich kann sicher sein, dass ich auch ohne Wecker aufwachen werde. Funktioniert immer!

Ich bin, obwohl ich Leiter des Uhrenmuseums bin, ein Freund der uhrenlosen Zeiterfassung. Früher einmal hatte ich eine Wohnung im 16. Bezirk. Ich habe aus dem sechsten Stock auf die Stadt gesehen, und vor meiner Wohnung war eine Reihe an Rauchfängen. Anhand dessen, hinter welchem Rauchfang gerade die Sonne aufgegangen ist, habe ich ganz genau ablesen können, welche Jahreszeit, welcher Monat gerade ist.

Heute wohne ich gemeinsam mit meiner Frau in einer 80 m² großen Altbauwohnung in der Nähe der Uno-City. Ich gehe aus dem Haus und blicke auf eine Wiener Würfeluhr. Ich bin sehr froh, dass es diese Würfeluhren noch gibt. Sie sind in gewisser Weise nicht nur Zeitanzeiger, sondern auch markante Ortspunkte. Wo treffen wir uns? Ach, treffen wir uns doch auf dem Stephansplatz unter der Uhr!

Ich habe zwar auch in der Wohnung ein paar Uhren, aber eigentlich nur die üblichen Verdächtigen. Denn eine Uhrensammlung braucht Platz. Und den haben wir nicht. Überall sind Bücher, Bücher, Bücher. Unsere einzige größere Uhr ist eine Pendeluhr aus den 20er-Jahren.

Meine Lieblingsuhr ist eindeutig der Matador-Bausatz in der Fensternische hinter mir. Den hat das Uhrenmuseum von den Matador-Machern vor vielen Jahren geschenkt bekommen. Sie würde theoretisch auch funktionieren, aber ... Hören Sie irgendein Ticken?

Eben! Ich habe ein paar Dutzend Uhren bei mir in der Bibliothek und Werkstatt. Sie sind zwar alle funktionstüchtig, aber nicht aufgezogen. Das langsame, dumpfe Ticken der großen Pendeluhren mit ihren langen, trägen Pendeln liebe ich sehr. Das hat in etwa die Frequenz des menschlichen Herzschlags. Aber dieses permanente Ticktack-Ticktack der kleinen Uhren würde mich unruhig machen.

Außerdem: Ab und zu ist es gut, die Zeit nicht zu messen, sondern einfach zu genießen. Das gelingt mir nicht immer, aber immer wieder. Am liebsten in meiner Freizeit, die sozusagen frei von Zeit ist, aber irgendwie auch wieder nicht. Denn am liebsten gehe ich da auf die Jagd, mit dem Fotoapparat, auf der Suche nach Uhren im städtischen Raum. Sie werden immer seltener. Und wenn es sie gibt, so wie etwa am Praterstern, wird ein Stanglwerkdach davor gebaut und die Uhr wird verdeckt. Das ist idiotisch. Dann kann man die Zeit nicht mehr ablesen. Und ja, ich habe eine Lieblingszeit. Zehn nach zehn. Dann grinsen die Zeiger." (DER STANDARD, 6.12.2014)