Anachronistische Dokumentationen zur zeitgenössischen Gesellschaft, die weltweit in "Büros der Stickerei" entstehen.


Foto: Colette M. Schmidt

Graz - Aufbruch liegt in der Luft. Eine Frau geht singend eine Straße hinunter. Menschen schließen sich ihr an. Zuerst einzelne, dann immer mehr. Frauen mit Kinderwägen, Männer, Jugendliche. Am Ende sind sie zu einer Community angewachsen, die zum Lied mitspaziert, wohin, ist noch unklar. Immer der Kamera entgegen.

Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Videoclip zu einem Popsong, ist die Arbeit Minderheit in Mehrheit des Berliner Künstlerduos Bankleer, das die nordböhmische Stadt Ústi nad Labem (Aussig an der Elbe) besucht hat. Bankleer sind Karin Kasböck und Christoph Leitner. Im von Roma bewohnten Stadtteil Predlice haben sie mit der Roma-Community und deren Musikerinnen die Ghettoisierung des Viertels thematisiert. Schaut man genau, bleiben einem die ramponierten Häuser und Straßen nicht verborgen. Der Vorwurf, der hier schwer wiegt: Der Staat überlässt das Viertel ganz bewusst dem Verfall.

Das Video ist Teil der Schau Die Kunst des urbanen Handelns (The Art of Urban Commitment) im Grazer Kunstverein Rotor. Einmal mehr beschäftigen sich die Kuratoren (Margarethe Makovec, Anton Lederer) nicht nur mit dem Endprodukt Kunst, sondern auch mit Prozessen: dem Eingreifen von Künstlern in eine Gesellschaft. Aktuell geht es wieder um die Frage, wem öffentlicher Raum eigentlich gehört und wie er gemeinsam gestaltet werden kann.

Mit Glücksökonomie wird ein zweiter Film des Berliner Duos gezeigt, der sich dem ambivalenten Zugang der Roma-Community zu ökonomischen Systemen befasst, sowie die Fotodokumentation über ein Freiluftkino, das man 2011 in Predlice veranstaltete.

Neben Bankleer aus Berlin zeigen in der Ausstellung Künstler und Gruppen aus Spanien, Serbien, Italien, Kroatien, Rumänien, Israel und Bosnien ihre Projekte. Schon im Eingangsbereich ziehen einen großformatige, von der Decke hängende Stickereien in den Bann. Was sind diese liebevoll gearbeiteten kleinen Kästchen mit Bildern oder Buchstaben in verschiedenen Sprachen?

Documentary Embroidery nennt sich dieses von mehreren Künstlern geschaffene Medium. Vahida Ramujkic und Aviv Kruglanski starteten die erste gestickte Dokumentation 2008 in Kairo. Mittlerweile gibt es in 15 Wohngebieten weltweit "Büros der Stickerei". Stets an Orten, die gerade im Umbruch sind. Mit der traditionellen Stickerei wird auch ein bisschen auf Entschleunigung gesetzt, auf Innehalten. Künstler und Zeitkritiker haben große und kleine Geschichten mit der Nadel verewigt. So sieht man etwa eine ältere Frau vor ihrem Computer sitzen. "Facebook" steht auf den PC-Schirm gestickt. Im Hintergrund raucht es bedrohlich aus dem Backrohr. Der Dame brennen Kekse an, während sie sich vernetzt. "Tod dem Faschismus" steht darunter. Gefertigt wurden die vier in Graz präsentierten Stickbilder in einem serbischen Dorf, einem Wohnviertel in Holon, Israel, einer Siedlung an der montenegrinischen Küste und in Mostar.

Im Café-Raum des Kunstvereins wird ein Projekt aus dem eigenen Grätzel, dem Annenviertel, vorgestellt: Die Kartografische Werkstatt. Dort kann man abseits herkömmlicher Landkarten - und deren Verhältnis zu Macht und Zeit - ganz eigene Bezugssysteme in Karten verwandeln. Beim kooperierenden Haus der Architektur, ebenfalls im Annenviertel, wird die Schau fortgesetzt: StudioBASAR, ein Kollektiv aus Bukarest, zeigt in fünf Stationen Beispiele seines Wirkens. Eigens für Graz haben sie einen Film produziert, der Überblick über ihre Aktionen im öffentlichen Raum gibt. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 13.12.2014)