Der Brennerbauer aus "Das finstere Tal": "Er hat einen kurzen grauen Vollbart, eine Stirnglatze und langes graues Haar, das ihm bis auf die Brust reicht."

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Der Hörfilm soll Zugang zu einem visuellen Medium schaffen.

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"Checkst du, dass ein Blatt Papier im Spiel ist?" – "Ich höre es", sagt Manfred Huber, der seinen Kollegen Christian Simon gern auch einen "Korinthenkacker" nennt, was als absolutes Lob zu verstehen ist. Die höchste Auszeichnung sozusagen. Die beiden arbeiten da gerade an einer Romanverfilmung, die bei Arte laufen wird. Simon liest einen Text vor, der Szene für Szene beschreibt. Huber nickt oder wendet etwas ein. "In seiner Wohnung geht Hans zum Kühlschrank", sagt Simon. "Den kennen wir ja schon", sagt Huber, weil der Kühlschrank früher bereits einmal auftauchte und der Blinde sich natürlich erinnert, genauso wie daran, dass das Gartenhaus in der letzten Szene als "weiß" beschrieben war.

Wie fährt die Straßenbahn in die Haltestation ein? Von rechts, dann von links, der Schnitt ist nicht klar, das Bild unplausibel. Falsch wäre es, das einfach wegzulassen in der Beschreibung, denn, sagt Huber, und das sollte man sich wohl hinter die Ohren schreiben im Umgang mit Blinden und Sehbehinderten: "Du darfst nicht lügen." Die merken das. Alle Sinne sind geschärft. Sie merken, wenn du lächelst. Man hört das an der Stimme. Sie merken, wenn du unaufmerksam bist, weil du dann zur Seite sprichst. Sie merken, wenn du etwas weglässt, und natürlich, wenn eine Filmbeschreibung nicht stimmt. Simon legt eine Zigarettenschachtel auf den Tisch und ein Feuerzeug quer dazu, führt Hubers Hand dorthin: "So biegt sie ein, die Straßenbahn. Wie würdest du das beschreiben?"

Barrierefreier Zugang

Audiodeskription (AD), also die über eine zweite Tonspur eingeblendete Beschreibung von Filmen für blinde und sehbehinderte Menschen, gibt es noch nicht endlos lange. Der Impuls kam aus den USA, wo man seit Mitte der 1970er-Jahre AD-Verfahren entwickelt. Im deutschsprachigen Raum sind Elmar Dosch und Bernd Benecke die Pioniere der Bewegung. Sie setzen sich seit den 1990er-Jahren vor allem beim Bayrischen Rundfunk für AD ein, gründeten eine "Münchner Filmbeschreibergruppe", entwickelten auch Regelwerke für Fortbildungen.

Was anfangs wie ein Nischen- und Minderheitenprodukt aussah, hat mittlerweile durch die Behindertengleichstellungsgesetze – in Deutschland 2002, in Österreich 2006 – an Gewicht gewonnen. Jetzt ist ein gewisses Maß an "barrierefreiem" Zugang zu Information vorgeschrieben. In Deutschland haben sich die öffentlich-rechtlichen Sender selbst verpflichtet, zehn Prozent des Programms mit AD anzubieten. Hierzulande schreibt das ORF-Gesetz eine Steigerung des AD-Anteils vor. In diesem Jahr werde man auf über 1000 Sendestunden kommen, errechnet Robert Sperling von der Redaktion "Humanitarian Broadcasting"; im Jahr 2010 waren es noch rund 450 Stunden.

Mittlerweile ist ein veritabler und zunehmend umkämpfter Markt für AD entstanden, auf dem sich etliche Produktionsfirmen tummeln, in Österreich sind die größten Interspot und audio 2. Wobei nicht nur Filme und Fernsehsendungen hörbar gemacht werden, sondern auch Livesendungen wie Wetten, dass..?, Sportveranstaltungen in den Stadien – hier ist die AD über Radiofrequenz zu empfangen – und Theateraufführungen. Das Projekt "theater4all" beispielsweise bietet AD für Stücke an Burgtheater, Volkstheater, Theater in der Josefstadt und Schauspielhaus.

In seiner Wohnung hängen Bilder, und Manfred Huber, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weiß auch, was darauf zu sehen ist. Er ist spät erblindet. Erst als er 45 war, griff die Erbkrankheit RP, Retinitis pigmentosa, bei der sich die Netzhaut langsam zersetzt. Zuerst tritt Nachtblindheit auf, dann verschlechtert sich das Kontrast- und Farbsehen, das Gesichtsfeld wird kleiner. Etwas mehr als drei Jahre dauerte der Übergang bei Huber, und das war die schlimmste Zeit. Er ist glücklicher, jetzt ganz blind zu sein, "man steckt sich sonst zu hohe Ziele, belügt sich, denkt: Die Sonne scheint so stark, darum kann ich das Schild nicht lesen."

Huber ist ein Aktivling, ein Macher. Früher spielte er Tennis, konnte Auto und Ski fahren. Seit 15 Jahren – das war der definitive Einschnitt – geht er mit Blindenstock. Was er vor Augen hat, jetzt, "praktisch erblindet", ist grellgrauer Nebel. Klar, auch wenn er nachts die Augen schließt. Manchmal kann er etwas wie einen Schatten erkennen, "aber der gibt mir keine Information", sagt Huber. Trotzdem hat man das Gefühl, er sähe einen an durch diese ovale Brille mit den orange schimmernden Gläsern, die vor dem Grellen schützen sollen. Und natürlich "schaut" Huber Filme, er benutzt diese Metaphern wie wohl die meisten Blinden. "Wir haben gesehen", "das sieht man doch", sagt er. Wenn er von einem Film erzählt, erwähnt er zuerst, wer mitspielt – Veronica Ferres –, dann, wovon der Film handelt, dann nennt er den Titel. Weiß er, wie Veronica Ferres aussieht? Ja. Woher? "Ich hab die Beschreibung."

Hingabe an die Lücke

In dem Handbuch Wenn aus Bildern Worte werden nennen Elmar Dosch und Bernd Benecke zwei Grundprinzipien der Audiodeskription. Sie klingen simpel und sind fast unmöglich durchzuführen: "Die Beschreibung soll in den Dialogpausen erfolgen", und beschrieben werden soll "alles, was es zu sehen gibt".

Die knappen Angaben zu Ort, Ambiente, Person, Aussehen – wo befinden wir uns, wer und was ist im Bild? – sind in die Pausen einzufügen. Die Aufgabe besteht darin, nichts vom Dialog wegzuschneiden und möglichst viele der sonstigen Filmgeräusche beizubehalten. Extrem schwierig in der Beschreibung sind daher Actionszenen, schnelle Schnitte, Rückblenden, aber auch Sexszenen und Slapstick. Sehr dicht sind meist auch die Anfangssequenzen der Filme, in denen handelnde Personen vorgestellt und sichtbare Schriftzüge eingelesen werden müssen. Die Audiodeskription der Soko Donau ist für Ungeübte ein schier nicht zu entwirrendes Feuerwerk an Namen und Kurzbeschreibungen. Oft wird die genauere Charakterisierung von Person zu einem späteren Zeitpunkt eingeschoben, wenn mehr Luft ist. Bei all dem gilt die Devise, den Film dennoch nicht "kaputtzuquatschen".

Die AD eines Filmes zu erstellen ist extrem konzentrierte Arbeit. Für einen 90-Minüter rechnet man im Schnitt mit einem Arbeitsaufwand von 45 Stunden. Christian Simon, Student der Soziologie, und Manfred Huber haben sich 2012 über eine Ausschreibung kennengelernt, gemeinsam eine Schulung absolviert, und arbeiten oft als Team. Im Idealfall sind an der Erstellung einer Audiodeskription sogar drei Personen beteiligt, zwei Sehende möglichst verschiedenen Geschlechts und ein sogenannter "Referenzblinder".

Zunächst hört Simon den zu bearbeitenden Film einmal mit geschlossenen Augen, dann sieht er ihn mit offenen Augen, und dann wird er für jede der einzelnen Sequenzen eine Beschreibung erstellen. Diese erste Rohfassung geht er dann gemeinsam mit Huber durch, der ebenfalls den Film zur Vorbereitung einmal gesehen hat – gehört vielmehr – und daher weiß, was er nicht verstanden hat, welche Teile der Handlung sich nicht aus der Tonspur erschließen lassen. Dann stimmen die beiden in langen Arbeitssitzungen Schritt für Schritt ab, ob Simons Beschreibung passt, ob sich ein Bild, ein konsistentes Ganzes ergibt, ein hörbarer Film. Das fertige Manuskript wird später noch einmal in der jeweiligen Produktionsfirma redigiert und ge gebenenfalls zur Überarbeitung zurückgegeben.

Doch was heißt "beschreiben, was es zu sehen gibt"? Das ist die eigentliche Frage. Wort und Bild, wie hängen die zusammen? "Ich will nicht hören: X verprügelt Y ", sagt Huber, denn das sei nicht das, was man im Film sieht. Man sieht, dass X die Faust ballt, sie Y in den Magen rammt, der sich krümmt und zu Boden geht. Huber will sich – wie wir beim Sehen – das Bild selber zusammensetzen aus den einzelnen Elementen. Objektiv zu beschreiben, möglichst ohne viele Adjektive, das ist die Anweisung für Audiodeskriptionen. Keine Wertungen, keine Zusammenfassungen. So heißt es eben nicht: "Ein Mafioso steht an der Straßenecke", sondern "ein Mann mit schwarzem, ins Gesicht gezogenem Hut und dunkler Sonnenbrille". Es heißt nicht: "Die beiden haben Sex miteinander", sondern: "Nackt sitzt sie auf ihm und bewegt sich langsam auf und ab." Es heißt nicht: "Greider erschießt den Pfarrer", sondern: "In der Stirn des Pfarrers ein Einschussloch. Blut spritzt an die Wand."

Ohne Sprache blind

Audiodeskription muss sich nach der Wahrnehmungslogik der Blinden richten, nicht nach der der Sehenden. Das bedeutet auch, dass vieles, was man im Film hören kann, nicht erwähnt werden muss. Dass eine Tür sich schließt, dass jemand sich räuspert, dass ein Blatt raschelt. Es heißt aber auch, dass nicht einzuordnende Geräusche erklärt werden müssen. "Eine Patronenhülse fällt zu Boden." Wichtig ist auch, Beschreibung und Bild synchron anzuordnen. In Österreich leben Schätzungen zufolge rund 3.000 Vollblinde, 100.000 schwer Sehbehinderte mit Sehkraft bis zu zehn Prozent und 146.000 Menschen mit Sehkraft bis zu 30 Prozent. Sie erkennen, dass da etwas im Bild geschieht. Wenn der Mörder schon längst in der Ecke steht, sollte das nicht erst eine Szene später beschrieben werden.

Im Grunde ist Audiodeskription eine Sache der Demut, der absoluten Dienstleistung. Sie erfordert zugleich sehr genaues Hinsehen und bewusste Reduktion. Viel passt nicht hinein in die Pausen, ein Schemen höchstens. Keine blumigen Girlanden, keine unnötigen Accessoires. Präzise muss diese Sprache sein, knapp, genau auf den Punkt und doch nicht nachlässig in der Formulierung. Sie muss dem Ton folgen und mit den Geräuschen des Films eine Einheit bilden. Es ist eine "literale", nicht literarische Beschreibung. Man könnte AD als eine ganz eigene Textgattung verstehen, die von der Hingabe ans Sichtbare und Hörbare lebt und von der Lücke zwischen den Tönen.

Auch die Stimme, die später bei der Produktion den Text einliest, muss neutral bleiben. "Da bist du die Nachrichtensprecherin", sagt Huber. Anfangs hatte man diese Parts auch an bekannte Schauspielerinnen oder Schauspieler vergeben. Eine Kata strophe, der AD-Text ist ja keine eigene Rolle.

Schließ die Augen. "Langsam schreitet der Brennerbauer an den Dorfbewohnern vorbei. Er ist schlank, hat buschige Augenbrauen, einen kurzen grauen Vollbart, eine Stirnglatze und langes graues Haar, das ihm bis auf die Brust reicht." Wer sehen kann, schaut irgendwann doch wieder hin und ist überrascht, wie anders alles ist. Niemals entspricht die Vorstellung, die eine Beschreibung auslöst, dem Bild, das wir mit Augen sehen. Dass die Farben fahl sind, die Gesichter der Dorfbewohner eingefallen, die Münder verkniffen, die Fingernägel dreckig. Das Gesicht des Brennerbauern mit seinen Runzeln und Flecken, es ist als Ganzes nicht zu beschreiben. Bilder lassen sich nicht vollständig in Worte übersetzen. Blitzschnell ist das Bild da, unmittelbar, scharf und konkret, es ist, was es ist. Die Sprache dagegen symbolisiert, bezeichnet, überträgt.

Das Bild gehorcht dem Raum, die Sprache dem Nacheinander der Zeit. "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte", heißt es. Wie fängt man das ein? Und doch gibt es Theorien, die behaupten, ohne Sprache könnten wir kein Bild verstehen, ohne Sprache blieben wir blind.

Ein Hörspiel für die Ohren

Lutz Mingramm, der auch mit Christian Simon zusammenarbeitet, ist früh erblindet, als Jugendlicher schon. Er hat an der hervorragenden Audiodeskription des Alpenwesterns Das finstere Tal mitgearbeitet. Natürlich erinnert Mingramm sich noch an das Sehen, daran, wie die Lackierung seiner Matchboxautos aussah zum Beispiel. Doch ihm sind im Film die Einzelbeschreibungen weniger wichtig als der Gesamteindruck, die Atmosphäre, die er aus dem Filmton, und die Charaktere der Figuren, die er aus den Stimmen liest. Mingramm würde auch nicht sagen, dass man "Bilder" im Kopf hat oder dass Erinnerung etwas mit Sehen zu tun habe. Vorstellung ist mehr als ein Bild, sie ist eine innere Gestalt, die sich aus vielen Eindrücken zusammensetzt. Bei Blinden sind das eben oft andere als bei Sehenden. "Jeder hat seine eigene Wahrnehmung", sagt Mingramm, "aber ich wunder’ mich manchmal schon darüber, wie wenig die Sehenden sehen."

Der Hörfilm ist ein eigenes Genre, und wenn er gut ist und man sich darauf einlässt, entwickelt er auch für Sehende seine ganz eigene Poesie. Er ist nicht vergleichbar mit dem Hörbuch, das ja gelesene Literatur ist, das eine Sprache spricht, die aus Worten Bilder baut. Hörfilme ähneln vielleicht mehr dem dramatisierten Hörspiel. Und doch gibt es auch da Unterschiede. "Ein Hörspiel ist für die Ohren gemacht", sagt Mingramm, "der Hörfilm dagegen soll Zugang zu einem visuellen Medium schaffen. Die Beschreibung muss eben auch die Bildsprache einfangen." Bildsprache – Sprachbilder. Man wird Wort und Bild nie ganz voneinander trennen.

Natürlich gibt es keine objektive Beschreibung, aber es gibt gute Beschreibungen und schlechte. Die gute weiß, was wesentlich ist an einer Sache, in einer Szene. Sind Farben überhaupt wichtig, die Größe und das Aussehen einer Person? Das erste Gebot der Audiodeskription ist, dass sie helfen soll, der Handlung zu folgen. Wo sind wir? Was geschieht, wenn nicht gesprochen wird? Dann kommen weitere Kriterien wie sprachlicher Ausdruck, Angemessenheit der Beschreibung, Atmosphäre. Um gute Audiodeskription zu fördern, vergibt der deutsche Blindenverband seit 2002 jährlich einen Hörfilmpreis.

Wichtiger Garant für die Qualität ist vor allem, dass Referenzblinde an der Produktion beteiligt sind. Denn Sehende können nicht wissen, ob eine Beschreibung trägt. Wenn laut Schilderung Ludwig II. zu einem Treffen reitet und dann eine Halle kommt, fragt ein Referenzblinder schon mal nach: "Und wo ist das Pferd?" Abgestiegen sollte Ludwig auch noch sein. "Nichts für oder über uns ohne uns", zitiert Manfred Huber einen bekannten Satz der Inklusionsinitiativen. Eigentlich wäre AD ein gutes Berufsfeld für Blinde, aber es fehlt an Nachwuchs bei Referenzblinden wie bei sehenden Filmbeschreibern. Und natürlich fällt das Honorar für AD unter Kostendruck nicht gerade üppig aus und reicht nicht zum Leben.

Die platteste Frage zum Schluss hat sich fast schon erübrigt: Warum wollen denn Blinde überhaupt Filme schauen? Teilhabe. Zur viel beschworenen "Barrierefreiheit" ist es noch ein langer Weg, private Fernsehsender bieten AD gar nicht an. Zur Integration hat die digitale Revolution enorm beigetragen, für Blinde ist sie wirklich revolutionär, denn mittlerweile kann ja alles, was auf einem Computerbildschirm steht, auch sprechen. E-Books, E-Mails, elektronische Listen, jede Webpage liest der Screenreader vor. Nur Bildbeschreibung kann er nicht.

Helmut Schachinger, Geschäftsführer des Museums "Dialog im Dunkeln" und immer zu Witzen aufgelegt, erzählt, wie er beim Saturn einen Fernseher kaufen ging. Der Berater war sichtlich überfordert, dass sich da ein Blinder mit weißem Stock und geschlossenen Augen, vor denen es seit mehr als 20 Jahren nur hell ist, über Plasma-TV und LCD informierte und auch keinen kleinen Fernseher haben wollte, sondern einen ordentlichen mit 42 Zoll. Könnte ja sein, dass mal wer zu Besuch kommt und mitschaut. Blinde wollen mitreden können über den letzten Tatort, sie wollen nicht nur Dokumentationen im Fernsehen verstehen, sondern auch Spielfilme. Sie wollen Hörfilme schauen – ja, "schauen" –, und vermutlich wollen sie das aus demselben Grund, aus dem die Sehenden Literatur verfilmen. (Andrea Roedig, Album, DER STANDARD, 13./14.12.2014)