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"Ich zünde kleine Blitze, die mir als flüchtige Erhellung dienen - zum Weitergehen" schreibt Paul Nizon in seinen Caprichos "Im Bauch des Wals" . Das Bild zeigt den Autor im Jahr 2010 bei der Entgegennahme des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur.

Foto: EPA/HERBERT NEUBAUER

Wer einmal das Glück hatte, mit Paul Nizon über einen Markt zu schlendern, bekommt eine Ahnung vom Entstehungsprozess der Sätze eines Schriftstellers, der seinesgleichen nicht hat. Denn vor Obst- und Gemüsesteigen, vor dem Feilschen der Metzger und Bäcker ist Nizon, dessen fünfundachtzigster Geburtstag sich dieser Tage jährt, ganz Kind seiner Lebenslust. Wie ein Entdecker treibt er voran, zielstrebig, dann wieder tastend, immer aber staunend, offeriert doch jeder Blick Neuland.

Diese Jagd nach Neuem ist auch der Motor seines Schreibens. Etwas in den Griff kriegen, nennt Nizon das, und ein klein wenig Zufriedenheit stellt sich erst ein, wenn er Formulierungen gefunden hat und er weiß, das Entdeckte auf diese Art noch nie in Worte gegossen zu haben. Das korrespondiert mit seinem poetologischen Ansatz, jeder Text habe eine Neuschöpfung zu sein, eine Einmaligkeit.

Und Nizon wird diesem hohen Anspruch gerecht. In seinem Werk gleicht kein Buch dem anderen, weder im formalen Aufbau noch in der sprachlichen Durchleuchtung des Stoffs. Letzterer meint bei Nizon zwar stets das eigene Ich, aber sosehr er aus Selbsterlebtem schöpft, seine Texte widerspiegeln die Fiktionen einer vom Autor entworfenen Persona. Nicht von ungefähr bezeichnet er sich als Autobiografie-Fiktionär. Er sei "kein Geschichtenabfüller, kein Verpackungsathlet." Seine Bücher handeln vom Ringen ums Glück, von Verzweiflung, von Leidenschaft und Sehnsucht, von Lust, Erotik, von Einsamkeit auch.

Nur eines treibt seine Protagonisten um: die Vergegenwärtigung des Daseins. Diese suchen sie in Rom, in Barcelona, im Spessart, vor allem aber in Paris. Die Seine-Metropole ist auch Schauplatz des Sammelbands Parisiana, der in Kürze erscheinen und Nizons schönste Paris-Texte beinhalten wird.

Alles riskieren

Seit gut vier Jahrzehnten lebt er nun in Paris, als "Deutsch schreibender Pariser Autor mit Schweizer Pass". Geboren in Bern, die Mutter Schweizerin, der Vater russischer Immigrant, promoviert Nizon nach Schulbesuch und Studium über Vincent van Gogh. Er arbeitet zunächst als Kunstkritiker, wird bald leitender Redakteur bei der Neuen Zürcher Zeitung - und gibt diesen Posten 1961 nach wenigen Monaten wieder auf, um Schriftsteller zu werden. Der Preis ist hoch, doch Nizon weiß, er muss alles riskieren: Ehe, bürgerliche Existenz, finanziell gesicherte Zukunft. "Das Leben ist zu gewinnen oder zu verlieren", so sein markiger Leitspruch, das Leben ist vornehmlich zu leben mit all seinen Widersprüchen, Zumutungen, privaten wie berufliche Pleiten, dessen ist sich Nizon bewusst, rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber.

Die Anfangsjahre als Schriftsteller sind hart, Nizon will keine moralische Instanz sein, in den politisch aufgeladenen Sechzigerjahren macht er sich mit Sätzen wie, "mein Platz unter der Sonne ist der im Nachtlokal", keine Freunde. Man stößt sich an seinen Bordellbesuchen, die in den Büchern Niederschlag finden, Nabelschau und Egozentrismus wirft man ihm zudem vor.

Weitergehen

Und tatsächlich, ob in Canto (1963), Das Jahr der Liebe (1981) oder in Das Fell der Forelle (2005), stets wird das eigene Ich zum Sprungbrett, um sich auf den literarischen Weg zu machen. In Hund, Beichte am Mittag (1998) heißt es: "Ich bin nicht fürs Denken, ich bin fürs Laufen gemacht." In der meisterhaften Capriccio-Sammlung Im Bauch des Wals (1989): "Ich zünde kleine Blitze, die mir als flüchtige Erhellung dienen - zum Weitergehen." Ein Marschierer sei er, das schlägt auch in seinem umfangreichen Journal-Werk durch. Wenig verwunderlich dito, dass der Titel seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen lautet.

Und bei allem Gegenwind, selbst im deutschsprachigen Raum erkennt man irgendwann, einen Schriftsteller wie Nizon hat man an seiner Sprache zu messen. Zahlreiche literarische Auszeichnungen folgen, sie bestätigen lediglich, was von Ingeborg Bachmann über Frisch, Dürrenmatt, Canetti bis hin zu Peter Handke namhafte Kolleginnen und Kollegen längst vertreten hatten: Mit Nizon ist ein Autor von Rang am Werk.

In Frankreich ehrt man ihn ohnehin als "größten Magier der deutschen Sprache" und "Chevalier des Arts et des Lettres", dem auch Autoren der jüngeren Generation wie Frédéric Beigbeder die Aufwartung machen - völlig zu Recht. Paul Nizon ist in vielerlei Hinsicht zu gratulieren, zu einem singulären Werk, zu seinem Geburtstag selbstredend und nicht zuletzt zu der ungebrochenen Entdeckungslust, die er beim Flanieren über einen Markt empfindet. Chapeau! (Christoph W. Bauer, Album, DER STANDARD, 20./21.12.2014)