Natürlich der Front National. Das ist die erste, naheliegende Antwort auf die Frage, wer wohl von dem Anschlag auf die "Charlie Hebdo"- Redaktion profitieren wird. Das auch, weil der Terrorakt nur einer von mehreren in einer Serie war, die 2012 mit den Schüssen auf jüdische Schulkinder in Toulouse begonnen hatte. Frontisten-Chefin Marine Le Pen reagierte wie immer als eine der Ersten und verlangt einmal mehr die Wiedereinführung der Todesstrafe sowie eine Einwanderungsbremse.

Das sind griffige Forderungen, die der Angst und Bestürzung so vieler aufgeschreckter Bürger im ersten Gefühlsmoment aus der Seele sprachen. Solche Anschläge können nur Wasser auf die Mühlen der französischen Rechtsextremen sein und in einen Wahlsieg, das heißt die Machtübernahme bei den Präsidentschaftswahlen 2017, münden. Heißt es jedenfalls.

Noch ist aber nicht aller Tage Abend. Frankreich macht derzeit dramatische Tage durch. Zugleich geht aber auch eine Grundwelle der Solidarität durch die alte Nation, die durchaus positive Folgen haben kann. Ähnlich wie ein klärender Sturm, der alte Blockaden aus dem Weg räumt und Platz schafft für Neues.

Oder neu Entdecktes: Fast scheint es, als machten sich die Franzosen auf, den tieferen Sinn ihres republikanischen Triptychons wiederzuerfinden. Die bei den Kundgebungen spontan hochgehaltenen Kugelschreiber und Bleistifte geben dem vielleicht französischsten aller Gefühle, dem der Freiheit, neuen Ausdruck. Muslime, Christen und Juden entdecken ihre Gleichheit vor dem Horror eiskalter Killer. Und das spontane Zusammenstehen von 100.000 Franzosen noch am ersten Abend der Anschläge zeugt von einer Brüderlich- oder Schwesterlichkeit, die in den letzten Jahren verloren schien.

Liberté, Égalité, Fraternité sind, wenn man es sich überlegt, pure Antithesen zum Front National. Leben ihnen die Franzosen wieder wirklich nach, können sie in einem wirklich patriotischen Elan zusammenstehen gegen jegliche Formen von Gewalt und Hass.

Das setzt aber auch von den politischen Kräften viel voraus. Mehr als nur schöne Worte, mehr als nur das Argument, dass der Front National an sich gar keine Argumente hat: Die Todesstrafe wird selbsternannte islamistische Märtyrer gewiss nicht abhalten. Und die jüngsten Banlieue-Terroristen sind in Frankreich geboren, woran ein sofortiger Immigrationsstopp nichts ändern würde.

Wichtiger wird es sein, dass die französische Regierung die neue Solidaritäts- in eine Aufbruchsstimmung zu verwandeln vermag. Zentrale Fragen müssen ohne falsche Scheuklappen angepackt werden. Es ist zum Beispiel inakzeptabel, dass die meisten Imame der französischen Moscheen nicht selbst Franzosen sind, sondern aus Marokko oder Saudi-Arabien stammen. Zum Beispiel aber müssen auch die Sozialpartner zusammenstehen und die unerlässlichen Wirtschafts-, Arbeits- und Steuerreformen anpacken, um das riesige Arbeitslosenheer gerade in den Banlieue-Zonen abzubauen.

In Frankreich hat sich der gesellschaftspolitische Egoismus fast aller Bevölkerungsgruppen gegenseitig aufgeschaukelt. Tragische Vorfälle wie die aktuellen helfen den Sinn des Gemeinwohls neu zu entdecken. Und wenn die Mehrheit der Franzosen wieder an einem Strang zieht, wird Marine Le Pen nie Staatspräsidentin. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 10.1.2015)