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Viele Menschen warten in den Bergen vor den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta auf eine Gelegenheit, den Grenzzaun passieren zu können.

Foto: REUTERS/Juan Medina

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Vorne Golfer, hinten Flüchtlinge: In Melilla trennt ein Zaun Afrika von Europa.

Foto: REUTERS/Jose Palazon

Wir stehen auf der Dachterrasse und schauen auf das Dunkel der Nacht. Nur das Krankenhaus in unmittelbarer Nähe mit den großen, grell leuchtenden Lettern an der Fassade spendet Licht. Der Sportplatz gegenüber ist menschenleer. Die Straße am Rande eines Wohnviertels in Fes wird in dieser Augustnacht nur sporadisch befahren, ein paar Hunde bellen in die Stille des Moments. Dann kommt ein Bus. Im Unterschied zu allen zuvor passierenden Fahrzeugen bleibt er stehen. Eine Gruppe steigt aus. Der Busfahrer lässt den Motor wieder an, fährt weiter. Die Ausgestiegenen bleiben, setzen sich in Bewegung. Als sie näher kommen, lassen sich die Menschen näher betrachten.

Schon viele Schritte

Es ist dunkel, und wir befinden uns auf dem Dach eines fünfstöckigen Hauses, es dauert also eine Weile, bis alles klarer erkennbar ist. Die Gruppe besteht aus fünf Männern. Sie tragen Hemden, Jeans und Sneakers. Sie sehen erschöpft aus und bewegen sich sehr träge fort. Ihre Körperhaltung und ihre Schritte deuten darauf hin, dass sie bereits viele Schritte hinter sich haben. Sie sehen müde und trotzdem zielgerichtet aus.

"Es kommen fast jede Nacht Neue", sagt mein Freund. "Wohin gehen sie?", frage ich. "Zum Bahnhof", sagt er und nennt damit nur das unmittelbar nächste Ziel. "Sollen wir sie fahren?", frage ich weiter. Die Antwortet lautet Nein. Zu viele Gerüchte kursieren, dass die Männer die Frauen vergewaltigen. Ich entrüste mich.

Hand aufs Herz

Zwei der Männer haben sich mittlerweile von der Gruppe abgesetzt und gehen über den Kreisverkehr, der sich direkt vor unserem Haus befindet. "The train station is this way!", ruft mein Freund hinunter und deutet die Straße zu unserer Rechten hinunter. "Thank you, my friend!", schallt es herauf. "Is about fifty minutes walking!" Wir werfen fünfzig Dirham hinunter. "Good luck and all the best for your way", rufen wir noch. "Thank you", sagt einer der beiden und greift nach den Münzen am Randstein. Dann klopft er sich mit der rechten Hand auf das Herz, winkt und geht mit seinem Begleiter weiter.

Wir bleiben zurück, schauen ihnen nach und sind ganz still. Dabei ist einem nach schreien zumute. Zu viel Ungerechtigkeit, zu große Gewissensbisse, nicht mehr getan zu haben. Wäre es Tag, hätten wir ihnen wenigstens noch Essen geben können, aber alles schläft, und die Mutter ist krank. Hättiwari. "Sie kommen aus Afrika und gehen nach Europa", sagt der Mann neben mir. "Der Bus kann sie nicht bis zur Station bringen, deswegen lässt er sie hier heraus", fährt er fort.

Surrealistische Szene

Keine zwanzig Minuten vergehen, und ein weiterer Bus bleibt stehen. Dieses Mal steigen zehn, fünfzehn Männer aus. Die Gruppe kommt auf uns zu, und die Szene strahlt etwas Surrealistisches aus.

Ungewisse Zukunft

All die Berichte über die Menschen, die vor der Grenze der spanischen Enklaven Ceuta oder Melilla warten – auf einen Weg nach Europa, auf einen Weg in ein neues Leben –, nehmen hier Gestalt an. Hier gehen sie. Sie haben einen langen Weg hinter sich und einen vielleicht noch längeren vor sich. Die Zukunft ist ungewiss. Noch nie war dies so klar wie hier, wie in diesem Moment. Noch nie war die Ungerechtigkeit so präsent. Noch nie hatte Ungerechtigkeit so viele Gesichter. Gleichzeitig war all das aus jeglichem Kontext herausgelöst, und alles, was zählte, waren diese Minuten, waren diese unmittelbaren nächsten Schritte.

Kein leichter Weg

Seit Jänner 2014 haben sich 207.000 Menschen auf den Weg über das Mittelmeer gemacht. Mehr als 3.400 Menschen starben dabei. Laut UNHCR ist das ein Rekord. Unglaublich viele Menschen warten in den Bergen vor Melilla und Ceuta auf eine Gelegenheit, den Grenzzaun passieren zu können. Absurde Bilder entstehen dabei, etwa wenn Menschen über die Zäune klettern und im Vordergrund ein Grüppchen Wohlhabender auf sattem grünem Gras Golf spielt. Man vermutet Fotomontagen – und doch: Migration ist Realität, ihre derzeitigen Bedingungen sind Realität.

Wie die Zukunft der Männer aussieht, die uns an diesem Abend begegnet sind, deren kurzer Teil der Reise wir waren, wussten wir nicht und werden es wohl nie erfahren. Ein paar Monate später hat mich mein Freund aus Fes jedoch wie so oft in Wien angerufen: "Heute haben sich drei Männer am Baum beim Bahnhof erhängt. Sie waren Migranten auf dem Weg in den Norden." (Lisa Rieger, derStandard.at, 16.1.2015)