Fotograf András J. Nagy wendet den Blick vom Elend in den Städten nicht ab: Voyeuristisch sind seine Aufnahmen von Obdachlosen in Europa dennoch nicht.


Foto: András J. Nagy

Wien - Das Foto, auf das man bei Betreten der Knoll-Galerie gleich als Erstes trifft, schaut besorgniserregend aus: Es zeigt den ungarischen Street-Fotografen András J. Nagy (geb. 1977) mit blutenden, ihm offensichtlich gerade erst zugefügten Cuts im Gesicht. Victim (Guilty) titelt das Bild, das insofern mit Nagys Arbeit zu tun hat, als die ungarische Fidesz-Regierung das ungefragte Fotografieren von Privatpersonen im öffentlichen Raum im März 2014 verboten hat. Seit diesem Erlass ist Nagy nur noch mit einer Art versteckten Kamera, einem umgebauten Mobiltelefon unterwegs.

Zu den von ihm "Porträtierten" zählt unter anderem ein nicht näher benannter Politiker der rechtsradikalen Jobbik-Partei. Als Nagy dessen Bild auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte, konnte dieser das Gericht davon überzeugen, er sei als private Person und nicht in seiner Funktion als Politiker abgelichtet worden - und nur als solcher wäre er von dem Verbot ausgenommen gewesen. András J. Nagy wurde also zu einer Geldstrafe verurteilt, die dessen Finanzkraft offenbar überstieg.

Der blutige Einschüchterungsversuch galt seinen Zahlungsschwierigkeiten, aber auch seiner politischen Gesinnung, die in den in Wien präsentierten Fotografien auch sehr deutlich zutage tritt: Immersion / Entering a World of Dishonest Truths, or, the End of Ambivalence ist etwa der Titel einer Serie von 2014, die den Obdachlosen verschiedener europäischer Städte gewidmet ist.

Die Bilder sind weit davon entfernt, diese einem voyeuristischen Blick oder gar einer Identifizierung auszusetzen. Vielmehr vermitteln die Schwarzweißaufnahmen den Eindruck, dass der Fotograf die etwa von Armut und Unbehaustheit erzählenden Bilder nicht gezielt gesucht, sondern einfach nicht ausgeblendet hat. Trotz des tristen Tons, der alle Bilder durchzieht, behielt sich Nagy in seinem Ansatz aber auch etwas Humorvolles vor: Beheade(a)d heißt zum Beispiel das Foto eines Obdachlosen, der sich so weit in einen Mistkübel beugt, als hätte er seinen Kopf darin verloren. Nützliches sucht dort auch ein mit schickem Plastiksackerl ausgerüsteter "Homeless" - Shopping lautet dazu der ironische Kommentar Nagys; der einer anderen Aufnahme den traurigen, aber ehrlichen Titel 8:00 am drunk gibt.

Wegen des in Budapest verhängten innerstädtischen Obdachlosenverbots besäßen die dort aufgenommenen Bilder zusätzlich Sprengkraft - extra ausgewiesen hat Nagy sie dennoch nicht. Man kann nicht wirklich erraten, in welcher Stadt der weitgereiste Künstler (Nagy verbrachte seine ersten Lebensjahre in New York) Orte und Situationen dokumentiert hat: Die mit Graffiti besprühte Unterführung, vorbeirasende U-Bahnen, heruntergekommene Telefonzellen oder Eingänge leerstehender Ladenlokale kennt man aus Wien genauso wie aus Budapest.

Abmontiertes "Glück"

Auch das Sujet des abtransportierten Glücksspielautomaten hätte man dieser Tage hierzulande finden können: Homeless Hero nennt Nagy die geniale Momentaufnahme, in der sich einige verlorene Hoffnungen traurig verdichten.

Pessimistisch ist die Schau dennoch nicht. Das hängt mit dem bereits erwähnten Humor des Künstlers zusammen, aber auch mit der Hängung seiner Bilder, in der Nagy den Kapiteln eines Romans (Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen ...) von Lászlo Kraszahorkai folgt. Der Schrifsteller beschreibt darin den Kosmos eines buddhistischen Klosters und entführt so zumindest im übertragenen Sinne in eine Welt fernab der abgebildeten transitorischen und allzu realen Orte. (Christa Benzer, DER STANDARD, 17.1.2015)