Die österreichische Regierung stand bisher hinter TTIP, sagt Malmström.

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Sie haben im November Ihren Posten als EU-Handelskommissarin angetreten. Was hat Sie am meisten überrascht in Ihrem neuen Job?

Malmström: Ich hatte schon vor meinem Wechsel in der Kommission ein umstrittenes Portfolio inne. Als EU-Innenkommissarin zählten Migrationspolitik, der Kampf gegen Menschenhandel, der Umgang Europas mit Asylwerbern zu meinen Themengebieten. Ich war es also gewohnt, in einem sensiblen Umfeld zu arbeiten, und habe mir erwartet, dass es beim Handel ruhiger zugehen wird. Ich lag falsch. Die Intensität und die Emotionalität der Debatten über das Freihandelsabkommen TTIP haben mich sicher überrascht.

STANDARD: Heftigster Streitpunkt bei TTIP sind die Investorenklagen: Konzerne sollen Staaten vor Schiedsgerichten klagen können. Ex-WTO-Chef Pascal Lamy sagt, das sei unnötig. Die Rechtssysteme in Europa und den USA seien stark genug.

Malmström: Die Rechtssysteme sind stark. Wir teilen auch einige Zweifel der Kritiker. Fakt ist aber: Die USA haben gesagt, dass sie Schiedsgerichte im Vertrag verankert haben möchten. Im Verhandlungsmandat, das die EU-Länder der Kommission erteilt haben, steht dieser Wunsch ebenso. Ich kann das nicht einfach ignorieren.

STANDARD: Was bieten Sie den Kritikern an?

Malmström: Wir werden versuchen, das System zu reformieren. Wir haben damit im ausverhandelten Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) begonnen. Dort haben wir mehr Transparenz in den Schiedsverfahren geschaffen und klarere Regeln festgelegt, wann ein Investor einen Staat klagen kann. Das reicht nicht aus, wir müssen weiter gehen: Es gibt in Ceta bisher kein Berufungsverfahren. Es gibt sicher auch Möglichkeiten, bei der Auswahl der Schiedsrichter strengere Kriterien anzuwenden. Das ist eine Reformdebatte, die derzeit in der Kommission läuft. Ob wir Schiedsgerichte so reformieren können, dass sie die USA akzeptieren? Ich weiß es nicht. Wir arbeiten daran.

STANDARD: Das reicht den NGOs wie Greenpeace und Attac nicht. Sie sagen, die Sonderklagerechte widersprechen demokratischen Prinzipien.

Malmström: Schiedsgerichte gibt es bereits seit rund 50 Jahren. Ich stimme zu, dass das System, so wie es eingerichtet worden ist, kein moderner Weg der Streitbeilegung ist. Aus heutiger Sicht hätten wir ein internationales Gericht oder die WTO damit beauftragt, Investorenklagen zu erledigen. Aber es ist hier bisher zu keiner Einigung gekommen. Ich kenne zugleich keinen einzigen Fall aus den vergangenen 50 Jahren, wo das Urteil eines Schiedsgerichts zu einer Erosion der Demokratie, wie wir sie kennen, geführt hätte. Es gibt hier übertriebene Ängste. Über 90 Prozent der Verfahren richten sich auch nicht gegen Gesetze, sondern betreffen Verwaltungsabläufe. Etwa weil einem Unternehmen eine Lizenz entzogen oder ein Vertrag mit einer Firma nicht verlängert wurde und sich die Betroffenen dann diskriminiert fühlen.

STANDARD: Viele Österreicher fürchten um die Qualität der Lebensmittel. Sogar wenn wie versprochen keine Chlorhühner kommen. Berechtigt?

Malmström: Die Standards für Lebensmittelproduktion in Europa werden von uns selbst gemacht. Niemand wird das ändern.

STANDARD: Aber der ökonomische Druck könnte Änderungen erzwingen. In den USA sind Legebatterien erlaubt, in Europa verboten. US-Bauern können also billiger produzieren.

Malmström: Es gibt Unterschiede in der Tierhaltung. Aber das heißt nicht, dass unsere Standards sinken. Im Abkommen mit Kanada haben wir klar festgehalten, dass mit Hormonen behandelte Rinder in Europa nicht verkauft werden dürfen. Was Druck betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob das Argument stimmt: Es gibt sehr starke Konsumentenschutzorganisationen in Europa, besonders in Österreich. Sie wissen genau, was sie wollen. Es gibt große Unterstützung der wachsamen Konsumenten für Bioprodukte und Lebensmittel aus kleinem, regionalem Anbau. Daran wird sich nichts ändern.

STANDARD: Im Jänner hat die EU-Kommission angefangen, eine Vielzahl an Positions- und Verhandlungsunterlagen betreffend TTIP zu veröffentlichen. Warum so spät?

Malmström: Weil ich vorher nicht da war. Nein, im Ernst: Was wir vor langer Zeit hätten tun müssen, war, das Verhandlungsmandat der EU-Kommission für TTIP zu veröffentlichen. Die Kommission hat darauf lange gedrängt. Aber die EU-Staaten haben sich verweigert. Dabei steht im Mandat nichts, was besonders sexy wäre. Das ist größtenteils Blabla. Die Weigerung, es publik zu machen, hat erst den Verdacht aufkommen lassen, dass da etwas besonders Verdächtiges drinstehen könnte. Wir haben viel Zeit verloren, weil wir Spekulationen wachsen haben lassen.

STANDARD: Muss TTIP in allen EU-Staaten ratifiziert werden?

Malmström: Es ist zu früh, das zu sagen. Erst wenn es eine Vereinbarung gibt – davon sind wir noch weit entfernt –, werden unsere Rechtsexperten sagen, ob es ein gemischtes Abkommen ist, das auch die nationalen Parlamente absegnen müssen. Ich gehe sehr stark davon aus.

STANDARD: Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea ist seit 2011 provisorisch in Kraft, obwohl noch nicht alle Parlamente in den Nationalstaaten zugestimmt haben. Kommt das auch bei TTIP?

Malmström: Es ist Tradition in der EU, dass Abkommen vorläufig in Kraft treten, sofern der Rat die Verhandlungen für beendet erklärt und das EU-Parlament die Vereinbarung annimmt. Sofern ein Staat Nein sagt, wird diese Anwendung natürlich sofort gestoppt.

STANDARD: Aber hier droht die nächste Debatte in Österreich zu eskalieren.

Malmström: Dann wird es Aufgabe der österreichischen Regierung sein zu erklären, was es mit der provisorischen Regelung auf sich hat und dass das keine Besonderheit ist. Ich kann mit NGOs diskutieren, aber ich werde die Österreicher nicht überzeugen. Das ist Aufgabe der österreichischen Politiker. Sie haben die Kommission gebeten, ein Freihandelsabkommen auszuverhandeln. Jetzt müssen sie die Öffentlichkeit überzeugen, dass das gut ist. Und es ist gut für Österreich: Das Land ist eine sehr offene, exportorientierte Volkswirtschaft. Ein Fünftel der Arbeitsplätze wird im Exportsektor geschaffen.

STANDARD: Der österreichische Kanzler Werner Faymann scheint sehr TTIP-kritisch zu sein. Haben Sie Kontakte?

Malmström: Ich kann nur sagen, dass uns ein Mandat erteilt wurde, TTIP zu vereinbaren, auch von Österreich. Bei drei oder vier Gelegenheiten hat der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, seine Unterstützung an uns einstimmig erneuert. Zuletzt hieß es in den Schlussfolgerungen des EU-Gipfels im Dezember 2014, dass die EU-Kommission TTIP schnellstmöglich fertigverhandeln soll.

STANDARD: Fühlen Sie sich von der Regierung in Wien noch unterstützt?

Malmström: Die österreichische Regierung stand hinter diesen Schlussfolgerungen. Zumindest in Brüssel.

STANDARD: Wie lange wird es dauern, bis die Verhandlungen abgeschlossen werden? 2016 wird in den USA ein neuer Präsident gewählt.

Malmström: Die Amerikaner, auch die Republikaner, haben sehr klar gesagt, dass sie die TTIP-Verhandlungen noch unter der Obama-Administration abschließen wollen. Wenn nicht, müssen die Gespräche so lange ruhen, bis die neue Administration 2017 steht. Es kann natürlich auch sein, dass in einem Wahljahr die Debatte in den USA zum Stillstand kommt, weil sie die Zugeständnisse, die sie im Rahmen eines Freihandelsabkommens nun einmal machen müssen, nicht in einem Wahljahr machen können. Derzeit arbeiten wir auf Hochdruck. Wir haben im Jänner technische Gespräche und im Februar die nächste große Verhandlungsrunde. (Alexandra Föderl-Schmid, András Szigetvari, DER STANDARD, 21.5.2015)