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Kinder nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Jänner. Laut Aufzeichnungen waren unter den Befreiten rund 700 unter 18 Jahre alt. Unter all jenen, die nach Auschwitz deportiert wurden, waren es über 232.000.

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Überlebende Zofia Posmysz: Schrecken in Kunst verarbeitet.

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"City Tours - Auschwitz - Salt Mines - Cheap!", zählt der Aufkleber am Bus eines Krakauer Tourismusunternehmens zentrale Eckpunkte des Geschäftsmodells auf. Jener Ort, der wie kein anderer für den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden steht, ist für manche Besucher zu einer Art düsterer Touristenattraktion geworden. Im Sommer sorgten Selfies vom Ort des Mordes an mindestens 1,1 Millionen Menschen für Aufruhr.

Fast jedes Jahr gab es zuletzt neue Besucherrekorde, 2014 zählte man 1,5 Millionen. Für eine Institution, deren Ziel es seit 1945 immer war, breites Bewusstsein zu schaffen, ist das im Grunde ermutigend. Aber es ist eben auch eine zwiespältige Aufgabe: Das staatliche Museum muss seine Bedeutung auch einer neuen Generation näherbringen, darunter auch Jahrgängen, für die nicht mehr die Großeltern, sondern die Urgroßeltern die Zeitzeugen sind. Um die Deutungshoheit hinsichtlich dessen, was Auschwitz heute bedeutet, wetteifern viele Interpretationen.

Zunächst gibt es jene, für die Auschwitz die unmittelbarste Definition des Grauens bedeutet. Zofia Posmysz war 18, als sie 1942 in Warschau festgenommen wurde. Ihr Verbrechen: Die Teilnahme an einem Untergrundbildungssystem, das von den Nazis geschlossene Schulen ersetzen sollte. Wenn die 91-Jährige heute erzählt, dass sie zuerst mit einer baldigen Freilassung gerechnet hatte, weil ihr Vergehen doch nicht so schlimm gewesen sei. Dass sie beim Anblick des zynischen Schriftzugs "Arbeit macht frei" am Lagertor Hoffnung geschöpft habe. Und wenn sie schließlich vom alltäglichen Horror ihrer drei Jahre in Auschwitz erzählt - dann klingt es ein wenig so, als spräche sie von einem anderen Leben.

"Meine Mutter hat befohlen, alles zu vergessen"

Die Distanzierung musste sie sich hart erarbeiten. Als Radioredakteurin beim polnischen Rundfunk habe man sie aufgefordert, Berichte über Auschwitz zu machen, erzählt sie. Später hat sie ihre Erlebnisse im Buch "Die Passagierin" verarbeitet. Zum ersten Mal wieder besucht hat sie das Lager mit ihrer Mutter. "Ich wollte das nicht, aber sie drängte immer wieder. Als sie es gesehen hat, hat sie mir befohlen, alles zu vergessen und nie wiederzukommen". Posmysz gehorchte lange. Erst im höheren Alter begann sie, dort Besuchergruppen zu treffen. "Es ist wichtig, dass die Erinnerung überlebt." Das Lager habe ihr ihre Jugend gestohlen, sagt sie. "Nun darüber zu erzählen, gibt meinen letzten Lebensjahren einen Sinn."

Viele Überlebende sind es nicht mehr, die ähnliche Arbeit übernehmen können. Die meisten sind über 90. "Wir müssen der Realität ins Auge blicken, dass 2015 das letzte runde Gedenkjahr sein wird, an dem viele Überlebende teilnehmen können", sagt Piotr Cywinski, Direktor des Auschwitz-Museums. Sie sollen daher noch einmal im Mittelpunkt der Gedenkveranstaltung am 27. Jänner stehen, für die seit Anfang des Monats ein riesiges Zelt über dem Eingangstor aufgestellt wurde - direkt über den Gleisen, die ins Vernichtungslager, und für mindestens 900.000 Menschen, großteils jene, die das NS-System als Jüdinnen und Juden definierte, fast unmittelbar in die Gaskammern führen.

Insgesamt werden zum 70. Jahrestag der Befreiung durch die Rote Armee im Jänner 1945 rund 300 Überlebende erwartet. Vor zehn Jahren waren es noch 1500. Von den rund 30 Staats- und Regierungschefs, die sich ebenfalls angesagt haben, wurde erbeten, dass sie sich eher zurückhalten.

Im Schatten des Schreckens

Vor ihrem Studium der Konservierung hatte sich Anna Lopuska erwartet, sich mit schönen Dingen beschäftigen zu dürfen, sagt sie: Mit alten Bildern, vielleicht mit Notenblättern oder wertvollen Möbeln. Auschwitz bedeutet für die Direktorin des "Masterplans zur Erhaltung des staatlichen Museums" nun eine tägliche Arbeit im Schatten des Schreckens.

Mit rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es ihre Aufgabe, die Zeugnisse für die Nachwelt zu erhalten: Die Koffer, die jene, die später ermordet wurden, oft in Erwartung eines neuen Lebens gefüllt hatten. Und ihre persönlichen Gegenstände: edle und abgearbeitete Töpfe, Kämme aller Art und Qualität, Zahnbürsten, Stöckel- und Kinderschuhe und Beinprothesen. Nicht nur emotional, sondern auch technisch sei das oft schwierig, sagt sie. Mit vielen der Materialien gibt es keine Erfahrung, weil sie im Normalfall zu billig sind, um erhalten zu werden. Viele der rund 150 Backsteinhäuser, meist Häftlingsbaracken, sind schwer baufällig.

Die Erwägungen fallen schwer: Auf der einen Seite steht die Aufgabe, den Ort als Mahnmal und als Stätte des Beweises zu erhalten - so, wie ihn viele Überlebende fordern: als einen Ort, der es jenen, die ihn gesehen haben, unmöglich macht, den Holocaust infrage zu stellen. Auf der anderen Seite steht die Ansicht, dass der historischen Authentizität mehr geholfen sei, wenn man etwa die Baracken verfallen lasse.

Und wie mit menschlichen Überresten verfahren? Lange war umstritten, was mit den rund zwei verbleibenden Tonnen an Haaren passieren soll, die den Opfern abgeschoren wurden. Erst vor ein paar Jahren hat man sich geeinigt: Sie sollen zwar weiter hinter der riesigen Glasscheibe gezeigt werden, wo ihr Anblick auch den bestvorbereiteten Besuchern den Atem raubt. Behandelt werden sie aber nicht. Irgendwann werden sie daher zu Staub zerfallen.

Geografie des Fernbleibens

Museumsdirektor Cywinski muss lange nachdenken. Auf die Frage, was Auschwitz für ihn persönlich bedeute, gebe es "keine allgemeine Antwort" . Dann sagt er doch etwas: "Eine große Last". Lange habe er als Mittelalterhistoriker "bewusst versucht, dem 20. Jahrhundert zu entkommen". Als man ihn gebeten habe, den Job anzunehmen, sei das zunächst sehr schwer gewesen. "Erst als ich mehrere Überlebende kennenlernte, bin ich langsam in die Rolle hineingewachsen". Die Herausforderungen bleiben groß.

Sprunghaft angewachsen sind vor allem die Besuche aus Staaten des früheren Ostblocks. Änderungen in den Lehrplänen machen sich dort bemerkbar, immer mehr nach 1989 ausgebildete Lehrkräfte stapfen mit ihren Klassen durch Kälte und Schlamm zwischen den Baracken, zu den Gaskammern und Krematorien, die vollständig abzubauen oder zu sprengen den Nazis 1945 nicht gelang.

Aber auch eine "Geografie des Fernbleibens" nennt Cywinski: Neben dem südlichen Afrika und muslimischen Staaten fällt ihm spontan auch Österreich ein: Nur rund dreitausend Besucher kamen von dort zuletzt pro Jahr.

Aus der Slowakei waren es 2014 zehnmal- und aus Tschechien rund 18-mal so viele. "Das zeigt, dass noch viel Arbeit getan werden muss", sagt er - auch angesichts der vielen Täterinnen und Täter aus Österreich.

Österreichs Opfermythos

Was er als Grund betrachte? Er wisse, sagt Cywinski, dass österreichische Schulen statt nach Auschwitz nach Mauthausen fahren. "Und auch das ist natürlich ein dramatischer Ort. Aber es war ein Konzentrations- und nicht ein Vernichtungslager". Und auch wenn er keinesfalls mit der Hand auf jemanden zeigen wolle, so müsse man doch sagen, dass Österreich lang ein Problem mit der Geschichte von 1938 bis 1945 gehabt habe. "Viele Besucher beschämt" habe das Eingangsportal des 1978 von Österreich eröffneten nationalen Pavillons: "Österreich - Erstes Opfer des Nationalsozialismus" war dort bis vor kurzem zu lesen. Seit 2013 wird umgebaut. In zwei Jahren soll es eine neue Ausstellung geben.

Noch immer verbreitetes Unwissen lege nahe, wieso Auschwitz weiter besucht werden muss, sagt Jonathan Webber. Der britische Anthropologe ist Spezialist für polnisch-jüdische Beziehungen und Professor an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Die Liste der Dinge, die das Lager bedeuten könnte, sei aber lang, sagt er: "Ist Auschwitz ein Symbol für den Holocaust?" Als Anthropologe müsse er sagen: "Klar, wenn es für Sie ein Symbol für den Holocaust ist, dann ist es ein Symbol für den Holocaust". Aber nur ein Symbol? Wahr sei doch auch, dass es ein echter Ort sei, ein Ort, an dem echte Menschen ermordet wurden.

"Ein Friedhof vielleicht?", fragt er sich selbst weiter. "Wohl einer der größten der Welt. Aber es ist zugleich auch kein Friedhof: Es ist nie als Friedhof geweiht worden, es hat keine Friedhofseinrichtungen." Andere würden den Ort als Pilgerstätte sehen oder eben als Attraktion des schwarzen Tourismus. "Ein sehr paradoxer Ort. Aber eines ist klar: Wenn Sie in Auschwitz waren, und der Besuch hat Sie nicht verändert; wenn Sie nicht gegen Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen die Stimme erheben - dann waren Sie nicht in Auschwitz". (Manuel Escher aus Krakau und Auschwitz, DER STANDARD, 24.1.2015)