Orpheus auf Reisen: Heiner Müller, gut gelaunt aus Anlass eines Wienbesuchs in den frühen 1990er-Jahren.

Foto: Cremer

Wien - Zwanzig Jahre nach seinem Krebstod ist der Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) ein Fall für Spezialisten, für Freunde von Spitzfindigkeiten. Von den Spielplänen sind seine Stücke weitgehend verschwunden. Sein Werk wurde vor 17 Jahren in einer rabenschwarzen Suhrkamp-Ausgabe endgelagert. Mit seinem Vorbild Brecht teilt Müller das Schicksal eines linken Klassikers. Klassiker, so wusste der Vorgänger zu berichten, zeichnet "durchschlagende Wirkungslosigkeit" aus.

Der unverwechselbare Müller-Sound ist sorgfältig abgespeichert. Nun müsste von ihm nur noch Gebrauch gemacht werden. Beinahe aus dem Nichts ist eine Neuausgabe der gesammelten Gedichte auf den Markt gekommen. Warten auf der Gegenschräge soll den ersten Band der alten Werkausgabe ersetzen helfen. Herausgeberin Kristin Schulz hat die hinlänglich bekannte Lyrik mit Funden aus dem Heiner-Müller-Archiv (Akademie der Künste, Berlin) großzügig ergänzt. Müllers Witwe, die Fotografin Brigitte Maria Mayer, steuerte ihrerseits Material bei.

Der Eindruck ist überwältigend. Schulz hält sich einigermaßen an die Chronologie der Entstehung. Umgekehrt hat Müller seine Gedichte mit nicht erlahmendem Fleiß immer wieder neu überarbeitet. Bis in einzelne Wendungen hinein wird ein konstanter Lebensvorrat an Bildern und Themen sichtbar. Müller ist der Orpheus des deutschen Sozialismus. Zum DDR-System hält er aus Hygienegründen Abstand. Aus dem Brecht-Epigonen der 1950er-Jahre wird der Rätselredner, eine Sphinx, deren Verse wie in Granit gemeißelt dastehen.

Farbe des Unheils

Aber auch Vorurteile lassen sich nunmehr getrost hinterfragen. Müllers poetisches Werk bildet einen nicht abreißenden Dialog mit den Toten. "Bei der Vorbeifahrt am Schlosspark Charlottenburg plötzlich die Trauer / GRÜN IST DIE FARBE DES UNHEILS Die Bäume gehören den Toten" lautet ein auf 1985 datiertes Gedicht.

Doch bereits der erste Text des Bandes ist aus dem nämlichen Holz geschnitzt: "Als Abend wurd wir stiegen auf den Baum / Von dem sie früh den Toten schnitten." Leer stand nun der Baum - so weiß es auch das Gedicht. Die Konklusion in versalen Lettern (Großbuchstaben) definiert den Erlebnisspielraum: "ZWISCHEN AST UND ERD IST RAUM." Hier nun, in der Aneinanderfügung von "IST" und "RAUM", schwingt auch der "Traum" mit. (Diese Lesart schlug unlängst der Lyriker Nico Bleutge in einer Süddeutsche-Rezension vor.)

Als Traumredner wird man Müller deshalb nicht ansehen müssen. Sein Dichten entzündete sich zuverlässig am schrittweisen Zerfall linker Utopien. Antike Stoffe bilden das Medium. Anhand von Herakles und Philoktet wird das Dilemma von Helden beschrieben, die sich mit ihrer Arbeit überflüssig machen. Es wimmelt von Tätern und Opfern. Nicht immer sind die einen von den anderen klar zu unterscheiden.

"Aber ich muss mein Stück schreiben", sinniert Orpheus in dem Schauspieler-Gedicht SCHALL CORIOLAN. (Der Sänger lebt in der deutschen demokratischen Unterwelt.) Müller müsse seine Schulden bezahlen.

Lob und Schulden

Er habe daher keine Zeit, ein langes Gedicht zu schreiben "über den größten Schauspieler den ich gesehen habe". "(...) und ich muss / Meine Schulden bezahlen damit ich mein Stück schreiben kann / Ein krummer Hund der sich in den Schwanz beißt". Das Preisgedicht auf den Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall, den Star des alten Berliner Ensembles, hat er dann doch geschrieben. Ein Gedicht zu schreiben über die Not, kein Gedicht schreiben zu können, gehört zu den Fleißaufgaben des Dialektikers. Müller löst sie, wie so viele andere, mit Bravour.

In den Jahren des durchschlagenden Erfolges wird Müllers Lyrik zärtlicher und knapper. Das späte Familienglück löst bürgerliche Empfindungen aus. Den Siegeszug des Kapitalismus verfolgt er mit erkennbarem Ekel.

Müller proklamiert das "ENDE DER HANDSCHRIFT". Nach Ausbruch seiner 1995 zum Tod führenden Krankheit setzt er die Maske des Stoikers auf. Nach außen bleibt er ungerührt, gibt hunderte Interviews, liest Deutschland fröhlich die Leviten. In einem seiner allerletzten Gedichtentwürfe denkt er sich in die Rolle Prosperos aus Shakespeares Sturm hinein: "Geh, Ariel, bring den Sturm zum Schweigen +/ Wirf die Betäubten an den Strand Ich brauch sie / Lebend, damit ich sie töten kann". Doch Miranda, Prosperos Tochter, tritt aus dem Kreislauf der Gewalt entschlossen heraus. Ihre Frage: "Vater / Warum". (Ronald Pohl, DER STANDARD, 3.2.2015)