Foto: Dicota

Pro
Von Ronald Pohl

Menschen, die Puderperücken trugen und seidene Strümpfe, besaßen Rückenkratzer. Von den hervorragenden Vertretern des Barock wird erzählt, sie wären mithilfe ihrer Kratzer ungebetenen Mitbewohnern in ihrer Kleidung zu Leibe gerückt. Rückenkratzer waren aus Holz oder Horn. Dort, wo sie ausliefen, spreizte sich der Schaft und ließ fünf fein gezinkte Fingerchen erkennen. Die Läuse flohen in Scharen. Die wohltuende Wirkung tragbarer Stative ging danach auf die Zunft der Kehlkopfspezialisten über.

Heute findet man die überarbeitete Fassung des segensreichen Geräts häufig in der Hand muslimischer Damen. Von Kratzen keine Rede. Auch Mandeln werden keine bespiegelt. In den Krallen sitzt der wichtigste Partner des Menschen: das iPhone. Der Selfie-Stick sorgt für Distanz. Es tritt gesunder Umraum zwischen Kamera und Pausbacken. Plötzlich ist Platz für Fiaker, für den Augustin-Verkäufer, den Steffl, die Smaragdhöhle eines Innenstadtjuweliers. Dieser Stab ist die anmutigste Prothese der Welt. Wer sich damit obendrein die Kopfhaut massiert: bitte gerne!

Kontra
Von Beate Hausbichler

Selbstgemacht. Das ist der Witz an einem Selfie, sofern es überhaupt einen an dieser Massen-Marotte gibt. Und als selbstgemacht müssen sie auch erkennbar bleiben. Denn eines wollen wir doch bitte über die Selbstdarsteller weiterhin wissen: dass nur sie selbst bereit waren, dieses Antlitz bis zum Gehtnichtmehr zu verewigen. Vielleicht gingen der lässigen Mimik, dem perfekten Sitz der Haare oder - falls sich ein Paar vor der Linse aneinanderschmiegt - dem authentisch-verliebten Lächeln etwa 170 Versuche voraus? Kein noch so bereitwilliger Fotograf spielt da mit, ein oder zwei Versuche, dann muss man sich zufrieden zeigen. Ist es aber natürlich nicht.

Bei einem sichtlichen Selfie ist dem Dargestellten also nicht zu trauen. Wer meint, es müsse 3000 Fotos von ihm oder ihr geben, steht in puncto Eitelkeit unter Verdacht. Eine Selfie-Stange, dieses noch dazu ziemlich hässliche Substitut, verschleiert die Produktionsbedingungen und macht uns glauben, da wollte wer mal eben diese fesche Person fotografieren. Einmal klick - und fertig. Von wegen (Rondo, DER STANDARD, 6.2.2015)