Von klugen Songtexten zum Weiheton gutbürgerlicher Literatur: Der 46-jährige deutsche Sänger Jochen Distelmeyer veröffentlicht mit "Otis" eine alles andere als moderne Odyssee. Hier marschiert Thomas Mann in die Technobude.

Foto: Christian Fischer

Wien - Berlin hat man vor allem als Stadt im Auge, in der seit langer, langer Zeit die Verhaltensauffälligen des gesamteuropäischen Raums unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Guddelauuune- und Verschwende-deine-Jugend-Szene zusammenströmen, um dort endgültig zu verkommen.

Die Klügeren schaffen es gerade noch, Marschierpulver-Techno im Vinylformat zu produzieren oder irgendwelche Clubbings zu veranstalten, in denen es eigentlich erst am späten Vormittag so richtig abgeht. Als junger Mensch unter 40 besteht auch noch die Möglichkeit, gerade so viele Scheine auf der Uni zu machen, dass die Alten in Schwäbisch-Hall oder Uppsala ein weiteres Jahr die Kohle rüberwachsen lassen.

Daneben besorgt man ab und zu gegen eine kleine Provision für seine besten 30 Kumpels von polnischen Facebook- und Darknet-Bekanntschaften Medizin, die hilft, dass man nicht schon am zweiten Tag zwischen zwei Tanzausschweifungen im Taxi vor Müdigkeit einschläft.

Andere gründen in nicht eigens umgebauten aufgelassenen Handwerksbetrieben Lokale, die sich Tante Herbert, Nudelfriedhof oder Sobald ick reich bin, koof ick mir den Schlachzoiga von Motörhead nennen und stellen als Kellner Leute ein, die gerade als Schauspieler oder Medienkünstler einen schlechten Lauf haben. Das lässt man die Kundschaft spüren. Berliner Charme! Zum Essen hat Schulfreund Günni hinten im Kabuff Pasta für 20 Euro zerkocht. Pasta kann jeder Depp, und die Leute schmecken die Pampe eh nicht, weil sie dauernd breit sind.

Dazwischen laufen noch ein paar Bushidos und albanische Mafiosi herum, damit eine knallharte und raue Atmosphäre herrscht, in der man mitten im Leben steht. Irgendwer muss für diese Leben natürlich bezahlen, aber das sind sicher nicht wir! Das seid ihr!

Klar, dass es in diese pulsierende Metropole voller Verfallsbiografien, Partytiger und Faultiere gern auch jene Dichter zieht, die ihre Kunst im Hier und Heute verorten. Interessanterweise liest man dann aber nicht über Viele-viele-bunte-Smarties-Partys im Berghain oder Tresor, sondern sehr oft von Kindernachmittagsbetreuung, Flohmarktschnäppchen und Milchkaffee in Cupcake-Shops. Irgendwie ist die Stadt zwar außerhalb des nachmittäglichen Nachtlebens völlig uninteressant, aber vielleicht soll genau das in einem Akt grausamer Schreibpraxis vermittelt werden. Nein, keine Namen.

Schlager und Diskurs

Jochen Distelmeyer war bis 2007 Sänger der Hamburger Diskurs-Band Blumfeld. Nach einer Figur Franz Kafkas benannt, stand sie 1992 mit dem Debüt Ich-Maschine ("Tinte für 20 Bücher im Bauch!") erst in der Schule Niklas Luhmanns, Adornos und Bob Dylans. Später folgte ab Old Nobody eher Nachdenkschlager laut Reinhard Mey oder George Michael. Die Verlage rissen sich um Jochen.

Nun ist mit Otis ein spätes Romandebüt erschienen. Umzugsbedingt ist es ausgerechnet ein Berlin-Roman geworden - aber was für einer! In Anlehnung an die klassische Odyssee sowie Ulysses von James Joyce erleben wir hier in konzentrationslosen Aneinanderreihungen all das Personal, das im Berliner Klischee nun einmal herumhängt. Dazu kommen Joschka Fischer, Frank Castorf, die Literatenszene sowie der - aha! - von Hamburg nach Berlin übersiedelte Held Tristan Funke. Hier arbeitet er sich am Odysseus-Stoff in einem Roman im Roman namens Otis ab. Der Stoff zerfällt nicht nur Tristan unter den Händen in Banalitäten, philosophische Kalenderweisheiten und Szenen ohne Pointen. Distelmeyer will ihm da als teilnehmen- der Beobachter in nichts nachstehen.

Betuliches Bürgertum entert also in gewähltem Weiheton die Technobude: "Sie steuerten auf den großen Tanzsaal zu, der von bunten, an der Decke angebrachten LED-Leuchtflächen in schummriges Licht gehüllt war."

Distelmeyer meint das ernst. Nach 300 Seiten waren wir am Ende im Zoo, im Theater und beim Holocaust-Mahnmal. Tiere, die Piratenpartei und eine Senffabrikantentochter kommen auch vor. Am Ende erschrecken wir wie einst der altgriechische "Outis" gleich "Niemand" gleich "Old Nobody" als "Odysseus" gleich "Otis" vor der etwaigen Sinnlosigkeit in dieser Irrfahrt: "Lose Enden, die ins Leere liefen. War er selbst mehr als ein in seine Bilder und Gedanken verliebter Mitläufer?" Oh, Götter, lasst Gnade walten. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 5.2.2015)