(An einem der Tische zwei ältere Männer, beleibt, rotgesichtig und reichlich angetrunken. Der erste blättert abwesend in einer Tageszeitung, der zweite hat den Kopf auf die Unterarme gelegt und scheint nahe daran, einzuschlafen. Pause.)

DER ERSTE (grinst. Liest aus der Zeitung vor): "Der Penis ist die Antenne des Herzens"... Das ist einmal was Neues ... (Lacht.)

DER ZWEITE (hebt ruckartig den Kopf und blickt ihn erschrocken an. Kurze Pause. Er greift zum Glas, trinkt, lässt den Kopf wieder auf die Unterarme sinken und stiert vor sich hin. Dann, mit schwerem Zungenschlag): Das ist überhaupt nichts Neues ... Das kenn' ich seit fünfzig Jahren ...

DER ERSTE: Ach? Und was soll das bedeuten? Wenn er ausgefahren ist, hat man Empfang? (Lacht.)

DER ZWEITE (weiterhin ernst): Nein ... Das war anders ... Ganz anders ... Nach der Mess' ... Immer nach der Mess' ... Hat er uns zu sich geholt ... "Sehet hier, die Antenne des Herzens, die der Herr uns geschenkt hat zu unserer Freude"...

DER ERSTE (verwirrt): Was?

DER ZWEITE (vor sich hin stierend): Ja, so war das ...

DER ERSTE: Das glaub' ich nicht.

DER ZWEITE (wie oben): Dann halt nicht ...

DER ERSTE: Aber ... Aber das ist ja furchtbar!

DER ZWEITE (wie oben): Nein ... Das nicht ... Das war noch nicht furchtbar ... Furchtbar war's später ... Wie er uns einzeln geholt hat ... "Knie nieder und siehe hier, das Fieberthermometer deiner Seele"... Das war furchtbar ...

DER ERSTE (entsetzt): Aber ... Aber das ist ...

DER ZWEITE (springt auf, dabei sein Glas umstoßend, reißt dem Ersten die Zeitung aus der Hand. Völlig außer sich:) Furchtbar, ja, furchtbar! Fast hab ich's vergessen gehabt! Und du, was machst du?! (Zerreißt die Zeitung, tritt gegen den Tisch, schlägt die Hände vors Gesicht, sinkt weinend zu Boden. Vorhang)

Material: Colette M. Schmidt, "Sexualmedizinerin: 'Der Penis ist die Antenne des Herzens'" - DER STANDARD, 30. Jänner 2015.

(Antonio Fian, DER STANDARD, 7./8.2.2015)