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Etwas atmet, braucht Raum, aber einen vergleichsweise kleinen Raum. Blasebalg. Balg. Atemraum: Elke Erb.

Foto: Friedrich, Brigitte / SZ-Photo / picturedesk.com

Die Lust

auf der Wiesenwölbung zu gehen
dort links überm Dorf, mit dem Besuch,
ist sanft, geduldig und nachsichtig, erinnere ich mich,

als ginge ich über einen großen Bauch,
den gut bewohnt gewesenen, jetzt leeren, alten,
ledernarbigen auch, meiner Mutter, als gebe es

diesen Genuss, einmal noch,
und zwar beliebig wiederholbar und weiter
nichts.

für Birgit

Die männliche Fantasie, die mehrfach bezeugt worden ist, die des Schriftstellers, der als ein imaginiert lebenslänglicher (auch lebenslänglich in Haft genommener) Embryo in der Mutter kauert und auf die Wand der Gebärmutter seine poetisch gedachten, aber auch kryptischen Zeichen ritzt oder schreibt, sei vor ausgesetzt.

Roland Barthes hat ihm eine Definition gegeben, die ich, seit ich sie zum ersten Mal las, nie mehr aus dem Gedächtnis verloren habe. "Der Schriftsteller ist jemand, der mit dem Körper der Mutter spielt (…): um ihn zu glorifizieren, zu verschönern oder um ihn zu zerstückeln, ihn bis zur Grenze dessen zu bringen, was vom Körper erkannt werden kann. Noch in der Entstellung der Sprache werde ich genießen, und die öffentliche Meinung wird Entsetzensschreie ausstoßen, denn sie will nicht, dass man die ‚Natur‘ entstellt."

Die Tochter einer Mutter (also: jede Frau) kann das nicht, es sei denn, sie verletzte sich selbst symbolisch – in die Zukunft gerichtet, als mögliche oder wirkliche Mutter. Ihre eigene Schwangerschaft beschädigte die symbolische Ordnung (durch krassen Naturalismus), also ist es keine biografische Banalität und kein Biografismus, dass Dichterinnen ein gewisser Keuschheitsgrad nachgesagt wird. (Sublimation?)

Nein, Emily Dickinson musste allein für sich bleiben, und ebenso Annette von Droste-Hülshoff in der zugigen Burg ohne Fensterscheiben, die ihrem Schwager gehörte. Und auch Sylvia Plath musste die symbolische Ordnung der Autonomie einer verlassenen Mutter zweier kleiner Kinder wiederherstellen, indem sie den Kopf in den Gasofen steckte. Der war in aller Perversion auch eine mütterlich umfangende, warme Höhle. Sie rettete damit ihre Dichtung, die vollendet war (und das wusste, spürte sie zweifellos), ließ aber die Kinder zurück in einer traumatisierenden Situation.

Es gibt keine Forschung über die Traumatisierung durch halbfertige, unzurechenbare Gedichte, die ein Dichter, eine Dichterin nicht vollbracht hat – wie das eigene Leben –, und parallel dazu über die Traumatisierung Schutzbefohlener, Kinder. Die Verlassenheit ist in beiden Fällen katastrophal. Ob diese Überlegungen im Zeitalter, das die Leihmutterschaft entdeckt hat, in dem globalisierte Samen- und Eispenden wie Touristen die Kontinente wechseln, Bestand haben, wird sich weisen. Ebenso, ob die Managementstrategien gewitzter Selbstvermarktung auf dem Reißbrett geplanter Dichter- und Dichterinnenkarrieren Bestand haben.

Elke Erb schreitet über solche ex emplarischen Erfahrungen traumtänzerisch sicher hinweg, als gäbe es sie nicht. Die Lust, die der Titel ihres Gedichtes benennt, ist genau diese Erfahrung, der Gratgang zwischen dem noch gerade Möglichen und dem Glück des Imaginierten.

Und an diesem Punkt lässt sich das Glück der Dichterin absehen. Der Spaziergang wird ein Weltgang, weltweit im Kleinen, hügelauf in die Vorstellung von der Mutter, die das Kind – das lyrische Ich vielleicht – gebiert und hügelab in die eigene Existenz trägt, die sich in einer vagen, wischenden Bewegung der Anstrengung der eigenen Körper- und Poesiewerdung erinnert.

Die eingeborene Tochter, die zukünftige Dichterin, läse die Zeichen an der Wand nur in Spiegelschrift. (Oder im Spiegelstadium, wie Luce Irigaray vorschlüge, läse sie dieses Gedicht?) Der gewölbte Hügel, eine irgendwo angesiedelte Gebirgsoberfläche, Lausitz (wo Elke Erb im Sommer hingeht), Eifel (wo sie herkommt).

Auf und Ab in einem geruhsam dynamischen Rhythmus ohne spektakuläre Brüche, und so ist das ganze Gedicht: Etwas atmet, braucht Raum und gewinnt Raum, aber einen vergleichsweise kleinen Raum. Blasebalg. Balg. Atemraum. Einen Raum, in dem ein tickendes, intelligentes Uhrwerk verborgen ist. Ein Zeitmesser der Erfahrung. Etwas, das ist hier das Körperliche, das Erinnerte des mütterlichen Körpers und das Erfahrene der Dislokation (Diskrepanz?) zwischen dem Weiblichen des nicht mehr gebrauchten, fruchtbar lebendigen Körpers, seiner gesellschaftlichen Auslöschung und den poetischen Fantasien, die dem Körperempfinden vollkommen konträr, vital entgegenstehen, ja, widerstehen müssen, um sich nicht selbst zu entmachten.

Etwas erinnert vage an den gespannten Hügelleib der Mutter, etwas erinnert an das Innen, und das Außen ist sehr schweigsam. Und gleichzeitig gibt es die hellsichtige Beobachtung des Außen. Ist es die Beobachtung der Mutter im eigenen Leib? Spricht hier die Schwester von Schwestern, als die sich Elke Erb immer bekannt hat, eine Dynastie des Weiblichen, die sich vorwiegend im Text fortpflanzt?

Der mütterliche Hügel: Das ist die objektivierte Sicht. Die Sicht der erwachsenen Tochter. Lust ist die Überschreitung des Bogens, auch des Bogens, den die Mutter gesetzt hat, auf dem sie zirkuliert. Und Schreiben ist Überschreiten ohnehin. Im Zimmer der Mütterlichkeit, im Tapetensicheren (im Gewachsenen) lässt sich geduldig brüten hinter gepolsterten Türen: George Sand. Aber das Dichten braucht eine offene Fläche, ein Eis, auf dem auch die Mutter gefährdet ist und in das sie einbrechen kann. Tote im Fallen und eine kleine, weise, energische Person, die über den Hügel geht und all dies weiß. Elke Erb.

Krause Gedanken, die schwanken. Nachtgedanken, die dem Tageslicht standhalten sollen und müssen, die einer Überprüfung bedürfen, wie alles Geschriebene, nächtlich, täglich oder tagtäglich. Und ich erinnere mich dunkel, dass es einen anderen poetischen Hügelgänger gibt: den im Piemont beheimateten Cesare Pavese, der den Dichter in sich dem Romanautor, dem Lektor, dem italienischen Übersetzer feinst gesponnener amerikanischer Literatur opferte. So geht es nur. Nächtlich, täglich, immer.

Diese Überlegungen legt der Schluss des Gedichts nahe. Ist der Genuss wiederholbar, und ist er weiter in die Zukunft zu projizieren? Reicht er aus wie ein Vorrat, von dem vielleicht lebenslang zu zehren ist? Oder legt dieser Genuss nahe, dass es nur ihn gibt, überwältigend, einzigartig "und weiter nichts"? (Ursula Krechel, Album, DER STANDARD, 28.2./1.3.2015)