Der berühmte "Schlaf der Vernunft", der "Ungeheuer gebiert" (1799): Goyas rätselhafte Huldigung an das Unbewusste.

Foto: British Museum

Juliet Wilson-Bareau steht vor einer Zeichnung mit dem lapidaren Titel "Cantar y bailar", und beinahe wirkt es, als wolle die zierliche Britin mit dem markanten grauen Kurzhaarkopf gleich selbst "singen und tanzen". Mit leuchtenden Augen sieht sich die Kunsthistorikerin im Saal um. "Sie lieben sich sehr" ("Se quieren mucho") heißt eines der Blätter, auf das Wilson-Bareau hinweist. Kein Zweifel, wem ihre professionelle Liebe gehört: dem Werk des Francisco de Goya (1746–1828), Maler, Grafiker und Zeichner, dessen Kunst die neueste Ausstellung der Londoner Courtauld Gallery gewidmet ist.

Kurioserweise gehört zur Sammlung des weltberühmten Museums nur ein einziger Goya, eben "Cantar y bailar". Als die Forscher vor vier Jahren einen Katalog aller aus Spanien stammenden Zeichnungen zusammenstellten, gingen sie der Herkunft des Blattes näher auf den Grund. Es gehört zu einem der acht Alben, die der spanische Hofmaler im letzten Drittel seines Lebens anfertigte, so viel wusste man schon. Doch wann genau war das Kunstwerk entstanden? In welchem Kontext stand es?

In alle Welt zerstreut

Aus diesen Fragen entwickelte sich ein faszinierendes Projekt: In hartnäckiger Kleinarbeit versammelten Wilson-Bareau und ihre deutsche Co-Kuratorin Stephanie Buck nicht nur sämtliche 22 (von ursprünglich) 23 Blättern des Albums, die in alle Welt zerstreut waren. Anhand winziger Details wie Papierqualität, Tintenspritzer auf der Rückseite und inhaltlicher Bezüge haben sie auch die Reihenfolge der Zeichnungen mühsam rekonstruiert.

Die acht Alben, von den Forschern mit den Buchstaben A bis H bezeichnet, stellen eine Art Tagebuch in Zeichnungen dar. Album D datiert aus den Jahren 1819 bis 1823, also aus der Zeit, als der alternde Künstler sich mehr und mehr auf sein Landhaus bei Madrid zurückzog und dessen Wände mit den berühmten schwarzen Bildern bedeckte. Diese wurden später auf Leinwand übertragen und dem Prado übergeben.

Das Album ist unter dem abwertend klingenden Namen "Hexen und alte Frauen" bekannt – so auch der Titel der Ausstellung. "Das stammt aber nicht von Goya", beeilt sich Wilson-Bareau zu sagen, schließlich habe dieser Frauen gegenüber keineswegs eine verächtliche Haltung eingenommen.

Anspielungen auf Hexen

Tatsächlich lassen viele Blätter das Geschlecht der handelnden Figuren offen, scheinen eher Dämonen übers Papier zu schleichen als Menschen aus Fleisch und Blut. Immer wieder kommen Träume, vor allem Albträume vor. An anderer Stelle enthält das Album eine Auseinandersetzung mit dem Tod sowie Anspielungen auf volkstümlichen Hexen- und Aberglauben, von dem Goya zeit seines Lebens fasziniert war. Die Blätter waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, "eher die Aufzeichnung von Gedanken, im Kern ganz privat", weiß die Kuratorin.

Beim forensischen Blick auf die Leihgaben aus aller Welt stellten Wilson-Bareau und Buck fest: Teilweise müssen die Zeichnungen komplexere Szenen enthalten haben. Unter Goyas strengem Blick und vielfältigen Korrekturen blieben fast ausschließlich Einzelfiguren oder Personentableaus übrig, meist ohne architektonischen Kontext. Ihre Dynamik, ihre ungeheuer moderne Vitalität erhalten sie aus Gesten und Gesichtsausdruck. "Regozijo", "Freude", steht lapidar unter einem in der Luft schwebenden Paar zweier tanzender Alter mit Kastagnetten. Mit dem Röntgenblick des Künstlers zeigt Goya mal humorvoll, mal zynisch, mal makaber die Freuden wie die schweren Belastungen des Alters: Hexen, lüsterne Seniorinnen, keifende Weiber.

Auf eine bittende Gestalt mit Narrenkappe (Titel: "Locura" gleich "Wahnsinn") folgt die schreckliche Vision einer "Bösen Frau", anscheinend kurz vor dem Verzehr eines Babys. Sie schaut auf den Betrachter mit einer Mischung aus Drohung und Hohn, im Hintergrund weisen eine Schüssel und ein Löffel auf die grausige Mahlzeit hin. Das nächste Blatt gibt einen Hinweis darauf, dass es sich um einen Albtraum handelt: Ein alter Mann erwacht aus seinem Schlummer und tritt mit den Beinen in die Luft, als wolle er die Dämonen loswerden. Ob sich da der Künstler spiegelt?

Großartig auch die folgende, wohl männliche Figur mit dem Titel in Goyas Handschrift: "Yo oygo los ronquidos" ("Ich höre das Schnarchen"). Tatsächlich glaubt man, den ohrenbetäubenden Lärm des mit weit geöffnetem Mund daliegenden Säufers zu hören. Stolz auf die eigene Kunst steckt in Goyas Beschriftung ebenso wie Wehmut: In der Realität konnte der taube Künstler ja schon längst keine Geräusche mehr wahrnehmen.

Als Kontext für die Albumblätter haben die Ausstellungsmacher weitere Radierungen und Zeichnungen des großen Spaniers versammelt. Dazu gehört der berühmte "Schlaf der Vernunft" aus den "Caprichos" ebenso wie glänzende Beispiele von früher Lithografie, mit der Goya experimentierte.

Im Kern aber geht es um Album D, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, sondern für einen kleinen Kreis von Freunden und Bewunderern. Die spürbare Begeisterung der Courtauld-Verantwortlichen dürfte dafür sorgen, dass dieser Kreis in den kommenden Wochen erheblich wachsen wird. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 2.3.2015)