Auf den längsten Zugstrecken Europas geht die Reise mit der Russian-Rail-Lokomotive knapp 5.000 Kilometer in mehr als 70 Stunden durch Tschechien, das nächtliche Polen, das verschneite Weißrussland und das eisige Russland in die größte Stadt nördlich des Polarkreises, nach Murmansk.

Foto: Alois Konrad

Die Basilius-Kathedrale in Moskau.

Foto: Alois Konrad

Der nördlichste Punkt der Reise: das Aljoscha-Monument in Murmansk.

Foto: Alois Konrad

Pünktlich rollt an diesem Sonntagvormittag am Hauptbahnhof Innsbruck ein Zug der Russian Rail ein, und ich beziehe mein Abteil, das ich mir die nächsten 35 Stunden mit einem russischen Rentner-Ehepaar teilen werde. Kalina und Sergej sind am Startbahnhof in Nizza zugestiegen und frühstücken herzhaft, als sich der Zug um 9.38 Uhr in Richtung Moskau in Bewegung setzt. Und so beginnt meine Reise als Fahrt auf quasi-russischem Territorium durch das verschneite Tirol. Es soll nach Murmansk gehen, dieser nördlichsten Großstadt Europas, an deren Hafen, der aufgrund des Golfstroms ganzjährig eisfrei ist, die Barentssee beginnt.

Weckruf Passkontrolle: "Medical document?"

Abends werde ich vom sanften Ruckeln des Zuges durchs nächtliche Tschechien in den Schlaf gewiegt, und nachts queren wir Polen. Gegen 4 Uhr erreichen wir bei Brest die weißrussische Grenze. Sergej weckt mich unsanft aus meinen Träumen: "Wake up! Granzia. Pass control!" Der weißrussische Grenzbeamte wirkt recht unfreundlich, und ich reiche ihm meinen Reisepass. Er kontrolliert ihn pedantisch, und als er feststellt, dass alle Dokumente in Ordnung sind, fragt er in strengem Ton: "Medical document?" Ich schaue ihn fragend an und sage, dass ich kein derartiges Dokument habe. Zornig-kalt erwidert er: "Big Problem!", und verschwindet mit meinem Ausweis. Zehn Minuten später taucht er wieder auf und deutet mir, ihm zu folgen. In einem leeren Abteil eröffnet er mir, dass wir unser großes Problem mit "Money!" lösen können. Ich füge mich meinem Schicksal, wandle schlaftrunken in mein Coupé zurück und hole dort 20 Euro. Der Grenzbeamte ist freudig überrascht. "Medical document" ist also im Weißrussischen das, was man andernorts "Bakschisch" nennt.

Schienenwechsel für den Zaren

Der Zug steht schon die ganze Zeit in einer riesigen Halle, denn jetzt wird jeder einzelne Waggon mit einer anderen Spurbreite ausgestattet. Östlich von Polen ist der Gleisabstand 85 Millimeter breiter als im Westen. Dies war damals der Wille des Zaren, der dadurch kriegerische Einfälle fremder Armeen erschweren wollte.

Also werden die Waggons beiderseits von stählernen Hebeböcken einen Meter emporgehoben und das Untergestell jeweils durch ein der russischen Norm entsprechendes ersetzt. Das Quietschen hallt von der Decke wider, und nach zwei Stunden ist die Prozedur abgeschlossen.

Wir fahren durch das verschneite Weißrussland, das bis zum Horizont flach und dünn besiedelt ist, passieren kleine, verschlafene Dörfer, endlose Birkenwälder und weite Felder, machen einen kurzen Halt in Minsk und nähern uns Russland. Sergej erklärt, dass wir diese Grenze ohne Grenzkontrolle durchfahren können, weil Weißrussland, Russland, Kasachstan und seit 1. Jänner auch Armenien eine Zollunion ähnlich dem Schengen-Raum bilden.

Mein Reiseziel lässt Sergejs Augen leuchten

Als ich Sergej erzähle, dass ich nach Murmansk fahre, beginnen seine Augen zu leuchten. Einmal in seinem Leben war er schon dort, im Sommer 1973. Damals war er Bauingenieursstudent und arbeitete einen Sommer lang an der Errichtung eines bedeutenden Sowjet-Monuments, der Aljoscha, mit. Ich verspreche Sergej, hinzupilgern und die besten Grüße zu bestellen.

Dienstag ist Fahrpause

Nach 34 Stunden Fahrt erreichen wir pünktlich den Endbahnhof Moskwa Belorusskaja. Dienstag ist Fahrpause im kalten Moskau, und ich nutze den Tag, um mir die Stadt ein wenig anzusehen. Von meinem Hotel im Norden Moskaus fahre ich zum Roten Platz, über dem herrschaftlich der Kreml thront. Ich schlendere etwas auf und ab, aber um der eisigen Kälte, die aus Sibirien herüberweht, zu entkommen – es hat minus 20 °C –, flüchte ich in die Basilius-Kathedrale, besuche dann noch das Lenin-Mausoleum und das Museum des Vaterländischen Krieges 1812. Um 22.30 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung, in 38 Stunden, in zwei Nächten und eineinhalb Tagen, werde ich in Murmansk sein.

Nach Murmansk immer wieder Fahrpausen

Am nächsten Tag, es ist Mittwoch, 11 Uhr, befinden wir uns bereits ein gutes Stück nördlich von St. Petersburg. Die Sonne kratzt am Horizont. Mittags steht sie nur eine Handbreit darüber – man kann erkennen, dass wir schon ziemlich weit im Norden sind. Der äußere Nordwesten Russlands ist zerklüftet von Seenlandschaften, und diese bieten beim Aus-dem-Fenster-Schauen eine willkommene Abwechslung zu den nicht enden wollenden Nadelwäldern, die finster vorüberziehen.

Längere Aufenthalte sind jetzt laut Fahrplan ungefähr alle zwei bis drei Stunden vorgesehen und bieten immer wieder Gelegenheiten, sich die Beine zu vertreten. Die Bahnhöfe, in denen wir halten, gehören zu Streusiedlungen, und die Schaffner sind damit beschäftigt, die Unterseiten der Waggons notdürftig von Eis und Schnee zu befreien, denn es herrscht auf der gesamten Strecke reges Schneegestöber.

Landschaften im morbiden Halbdunkel der Ewigen Nacht

Nachts überqueren wir den nördlichen Polarkreis, diesen 66. Breitengrad, ab dem um die Wintersonnwende die Sonne nicht mehr aufgeht. Und nun, am späten Vormittag, kurz vor Murmansk, bin ich von der Helligkeit der Polarnacht überrascht. Es ist keineswegs stockfinster, sondern eher zwielichtig wie in einer recht frühen Morgendämmerung. Die Sonne geht zwar nicht mehr auf, die Lichtstrahlen, die sie über den Horizont schickt, reichen aber aus, um die Landschaft in ein morbides Halbdunkel zu tauchen.

Auf die Minute genau erreichen wir donnerstags gegen Mittag Murmansk. Endlich am Ziel! Zu meinem Hotel sind es nur wenige hundert Meter, und ich erkundige mich dort, wie ich zu dem Sowjet-Denkmal Aljoscha komme, von dem mir Sergej erzählt hat. Mit dem Bus, der vor dem Hotel abfährt, bis zur Endstation, dann würde ich das Denkmal schon leuchten sehen, heißt es.

Aljoscha, der Umkehrpunkt

In einer halben Stunde Busfahrt wird mir bewusst, wie groß diese Stadt ist. Entlang riesiger Plattenbausiedlungen, die recht fantasielos in die Gegend geklotzt wirken, erreicht der Bus schließlich die Endstation. Ich steige aus und kann im Hochnebel einen Widerschein erkennen. Nach wenigen Kehren steht er vor mir: dieser monumentale Krieger, der 35 Meter hoch stur Richtung Norden blickt. Zu seinen Füßen breitet sich das Lichtermeer von Murmansk aus. Er schaut dorthin, wo sich der Fjord in Richtung Barentssee öffnet, in schwarze Finsternis. Vor ihm brennt ein ewiges Feuer, an dem ich mich wärme. Weht hier, an diesem exponierten Punkt, doch ein eisig kalter Nordwind. Dies ist der nördlichste Punkt meiner Reise. Der Umkehrpunkt. Ich erinnere mich an Sergejs Leuchten in den Augen und bestelle seine besten Grüße. (Alois Konrad, derStandard.at, 5.3.2015)