Suhrkamp-Autorin Valerie Fritsch.

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Valerie Fritsch, "Winters Garten", € 17,50 / 154 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2015

cover: suhrkamp

Öfters schon hatte Anton jene Menschen gesehen, die hinter den Fenstern mit den Händen über ihre Habseligkeiten strichen, erwacht aus der Lähmung der Tage sich fahrig einen Hut aufsetzten, verstohlen aus der Tür traten und sich auf der Straße wie zufällig zu einer Menge zusammenfanden, die auf das gleiche Ziel zuging. Sie schossen einander mit den Waffen, die sie an den Bahnhofshallen gekauft hatten, in die Schädel und in die Herzen." Die Stadt, in der Anton Winter, der 42-jährige Vogelzüchter und Protagonist in Valerie Fritschs Suhrkamp-Debüt Winters Garten, die unerhörten Geschehnisse beobachtet, befindet sich im Ausnahmezustand. Seit unbestimmter Zeit wird sie von Natur- und anderen Gewalten heimgesucht. Nichts Geringeres als der Weltuntergang steht bevor. Dieses eine Mal findet die angekündigte Katastrophe tatsächlich statt; das große Verstummen wird mit den verzweifelten Exzessen des Liebens und des Tötens nicht abzuwenden sein. "Es ist leise geworden in unserer Stadt, entsetzlich leise, und die Menschen so dünn. An ihnen erkennt man, dass es zu Ende geht. Den einsamsten aller Planeten hat mein Großvater die Erde genannt, weil hier jeder für sich allein kämpft und jeder für etwas stirbt, für das man so gerne leben würde."

Die Eindringlichkeit, mit der Valerie Fritsch eine sich nach der apokalyptischen Vorhut in Auflösung befindende Gesellschaft beschreibt, ist fraglos beklemmend und doch sternenfern der dystopischen Genreliteratur. Anton wird den vermeintlich elysisch anmutenden Garten, in dem er aufwächst, früh verlassen und - wie jeder verstand- und herzbegabte Mensch - schlussendlich erkennen, dass man sich nicht entkommt. "Die Kindheit erschien ihm jetzt als ein Ort, an dem man später groß sein möchte, um endlich für nichts mehr zu klein zu sein, und gleichzeitig als einer, vor dem man sich sein Leben lang retten muss." Als sein Vater stirbt, wird der Sohn eines eigenbrötlerischen Geigenbauers und einer Mutter, die "die Notwendigkeiten dieser Welt erkannt und angenommen hatte", zum ersten Mal nach langem in den Garten zurückkehren und keine Worte haben. Später, bei seiner endgültigen Rückkehr, wird Anton zu Leander, seinem unvermisst wiedergefundenen Bruder, sagen: "Es ist traurig, wenn der Tod das größere Spektakel ist als das Leben. Und man sich erst dann findet."

Schon in Valerie Fritschs Debütroman Die VerkörperungEN (Leykam 2011) gibt sich die Lebens- und Sterbenskatastrophe eher beiläufig, wenn etwa der Gedichte schreibende Bordellbesitzer Monsieur Candisi feststellt, dass sich das Unglück einem selbst unglücklicherweise immer besonders literarisch verkaufe. Aber anders als in den VerkörperungEN umkreist Winters Garten nicht die sogenannte (ver)käufliche Liebe, sondern deren gemeinhin vermutetes Gegenteil. "Nur Wochen bevor die Welt untergehen würde", verliebt sich Anton Winter "das erste Mal in zweiundvierzig Jahren unsterblich", nämlich in Frederike, deren Anwesenheit "an den Nervenenden begonnen und im Verstand nicht aufgehört" hat. "Dass ich einmal nicht mehr allein leben würde, hätte ich nie für möglich gehalten, weißt du. Dass wir uns begegnet sind und du an meiner Hand mit mir nach Hause gegangen bist, ohne ein Wort und ohne sie je loszulassen. Ich kann es nicht glauben, aber ich würde mich gerne daran gewöhnen."

Frederike, die früher zur See fuhr, arbeitet als freiwillige Helferin im Gebärhaus der Stadt. Als Marta in Frederikes Beisein ein Kind zur Welt bringt, wissen beide noch nicht, dass ihre Männer Brüder sind und sie bald zu fünft die Stadt verlassen und im längst verwaisten Garten eine letzte Zuflucht suchen würden. "Seit Wochen stand sie am Tag viele Stunden über die schmutzigen Betten gebeugt oder nachts mit einem Säugling im Arm in der Dunkelheit am Fenster, wiegte sich und das Kind hin und her und starrte hinaus in die Stadt. Fasziniert von dem, was die Erde auseinanderreißt, und dem, was sie zusammenhält: dem Lieben und dem Grauen."

Die Sprache, mit der Valerie Fritsch von jenem Riss, der durch die Welt und jeden Einzelnen geht, erzählt, ist von einer betörenden Schönheit, wie man sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lange schon nicht mehr vorgefunden hat. Sie zeichnet sich durch eine schonungslose Zärtlichkeit aus und nicht zuletzt durch jene Genauigkeit, deren es so dringend bedarf, wenn man nicht Gefahr laufen will, mit ein, zwei falschen Bildern, ein paar misslungenen Sätzen einen ganzen Text zu Fall zu bringen. Auch die grobschlächtigsten Falsifikationisten des Betriebs werden gegen diesen Roman nichts ausrichten; seine vorbeugende Beweisführung besorgt er textimmanent. Wenn also - und nichts anderes ist zu erwarten, falls die deutschsprachige Literaturkritik ihren Restverstand noch nicht zur Gänze verpfändet hat - Winters Garten breitflächig als große Entdeckung gefeiert und mit den handelsüblichen Superlativen versehen werden wird, gilt es daran zu erinnern, dass die 25-jährige Autorin nicht aus dem literarischen Niemandsland kommt, sondern mit Die VerkörperungEN oder etwa auch dem Band Die Welt ist meine Innerei (Septime 2012) bereits ehedem mehrere Arbeiten vorgelegt hat, die längst zu entdecken gewesen wären und es nach wie vor sind, leisten sie doch allesamt, was neben der Liebe einzig ganz große Kunst zu leisten vermag: dass sie an den Nervenenden beginnt und im Verstand nicht aufhört. (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 14./15.3.2015)